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Aktuell INTERVIEW

Bernhard Pörksen: Warum Journalismus notwendiger ist denn je

Professor Bernhard Pörksen über die Zukunft der Zeitung und warum Journalismus notwendiger ist denn je

Plattformen destabilisieren ganze Gesellschaften durch Desinformation: Professor Bernhard Pörksen. FOTO: PETER-ANDREAS HASSIEPEN
Plattformen destabilisieren ganze Gesellschaften durch Desinformation: Professor Bernhard Pörksen. FOTO: PETER-ANDREAS HASSIEPEN
Plattformen destabilisieren ganze Gesellschaften durch Desinformation: Professor Bernhard Pörksen. FOTO: PETER-ANDREAS HASSIEPEN

TÜBINGEN. Er war Professor des Jahres, ist einer der bekanntesten Medienwissenschaftler der Republik und spart nicht mit Kritik an der eigenen Berufsgruppe. Seine Veröffentlichungen sorgen regelmäßig für Aufsehen und seine Zukunftsentwürfe werden intensiv diskutiert. Professor Dr. Bernhard Pörksen lehrt und forscht an der Universität Tübingen. Im Gespräch mit dem GEA spricht er über die Zukunft der Zeitung, seine Vorstellungen von der redaktionellen Gesellschaft und warum der Journalismus in der demokratischen Gesellschaft nie wichtiger war als momentan.

GEA: Lesen Sie Tageszeitungen, Herr Professor?

Bernhard Pörksen: Absolut, jeden Tag. Ich kann mir einen Tag ohne die Lektüre von Zeitungen nicht vorstellen. Internationale Blätter studiere ich online, die wären zu spät in meinem Briefkasten. Aber die Zeitungen aus der Nahwelt lese ich auf Papier. Man kann sagen, das ist Nostalgie. Aber man kann genauso gut sagen, das Medium des Gedruckten hat immer noch einen entscheidenden Vorteil.

Jetzt sind wir gespannt.

Pörksen: Das Medium des Gedruckten liefert die zufällige Überraschung, programmiert die Auseinandersetzung mit einem Thema, nach dem man gar nicht gesucht hat. Bei der gedruckten Zeitung handelt es sich um ein von Journalistinnen und Journalisten geschnürtes Materialbündel, das frühmorgens über den Frühstückstischen der Republik abgeworfen wird. Und man stößt in diesem Materialbündel auf viele Geschichten, die nicht alle interessieren, ob im Lokalen, im Sport, in der Wirtschaft, in der Politik. Aber man stößt in jedem Fall auf etwas, mit dem man nicht gerechnet hat. Und dadurch werden unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Milieus, miteinander verbunden. Das halte ich für existenziell notwendig.

Haben Sie eine Vorstellung von der Zukunft der Tageszeitung?

Pörksen: Die Auflagen der Tageszeitungen bröckeln, wir erleben eine Umschichtung der Werbemärkte hin zu den Digitalgiganten. Und in den USA bilden sich längst Nachrichten- und Zeitungswüsten, Gebiete, in denen gar keine Möglichkeit mehr besteht, sich über das lokale Geschehen durch unabhängige Journalisten zu informieren.

»Es hagelt unbegründete Lügenpresse-Vorwürfe – bis weit in das bürgerliche Lager hinein«

So weit sind wir in Deutschland, in Europa noch nicht. Was läuft aus Ihrer Sicht falsch?

Pörksen: Die grundlegende Frage lautet: Wie lässt sich Qualitätsjournalismus finanzieren, auf eine ausreichend stabile Grundlage stellen? Und diese Frage ist Anlass zu echter Sorge. Denn es gibt eine Refinanzierungskrise der Zeitungen. Und es gibt in Teilen der Gesellschaft eine Vertrauenskrise. Einzelne Milieus vertrauen den Medien nicht mehr, und es hagelt pauschale und unbegründete Lügenpresse-Vorwürfe – bis weit in das bürgerliche Lager hinein. Journalisten werden attackiert, bedroht. Eine Zukunftsprognose ist daher schwer.

Aber eine Idee werden Sie doch haben?

Pörksen: Ich habe eine Hoffnung, ja. Idealerweise ist die Tageszeitung der Zukunft ein Medium des zweiten Gedankens. Sie macht Hintergründe auf entschleunigte Weise sichtbar, dies in dem Wissen, dass man den Aktualitätswettlauf mit dem Netz ohnehin nicht gewinnen kann. Überdies ist die engagierte Berichterstattung über die Nahwelt eines Menschen ein Wert an sich, denn wir sind Nah-Wesen, fasziniert von dem, was uns unmittelbar umgibt. In Zeiten, in denen wir – auch in unserer unmittelbaren Nahwelt – eine zunehmende Polarisierung und den Rückzug in Selbstbestätigungsmilieus erleben, ist die Regionalzeitung bedeutsam, um das Stadtgespräch in Gang zu halten. Allerdings bleibt die Frage: Reichen Zeit und Erfindergeist, um die Refinanzierungskrise zu lösen? Gelingt die Suche nach einem Geschäftsmodell im digitalen Zeitalter? Und das ist eine Frage, die man nicht nur an Journalistinnen und Journalisten richten muss.

Sondern?

Pörksen: Hier sind die unterschiedlichsten Kräfte gefragt – die Politik, die Verlage, die Zivilgesellschaft, auch die akademische Welt, die bisher das Schicksal der Zeitungen mit einem Höchstmaß an dümmlicher Ignoranz begleitet, ganz so, als könnte man irgendwann mit den eigenen Themen zu RTL 2 umziehen.

Was wäre zu tun?

Pörksen: Was gewiss hilft: die Subventionierung von Zustellungskosten. Worüber zu diskutieren wäre: politikferne Stiftungen zur Zeitungsfinanzierung, wie dies einmal der Philosoph Jürgen Habermas angeregt hat. Und was unbedingt zu erhalten ist: ein kritischer, unabhängig recherchierender Journalismus – gerade in Zeiten von Fake-News und der Aufrüstung der PR-Industrie. Noch einmal: Unabhängiger Journalismus ist systemrelevant, zumindest in einer Demokratie.

Wenn das alles wirklich relevant ist, müssten politisch interessierte Jugendliche Zeitungen lesen.

Pörksen: Das Problem ist, dass die Preise verdorben sind, sich Menschen an die Gratis-Verfügbarkeit von Informationen gewöhnt haben. Und Zeitungen sind teuer. Wenn man mehrere Tageszeitungen lesen will, kommen Summen zustande, die junge Menschen ganz sicher nicht bezahlen können.

Was tun?

Pörksen: Es gilt, den Wert, den Journalismus für eine Gesellschaft und das demokratische Miteinander besitzt, deutlich zu machen. Zu diesem Zweck und auf dem Weg zu echter Medienmündigkeit braucht es lange schon ein eigenes Schulfach. Und wir benötigen einen Journalismus, der sich öffnet, der mit dem Publikum auf Augenhöhe spricht, den Dialog sucht, die Spielregeln der eigenen Branche transparent macht.

Es scheint sich um langfristige Prozesse zu handeln?

Pörksen: Das ist so. Und wir müssen uns fragen, ob die Zeit reicht, um die Bewusstseinsbildung in Zeiten der Medienrevolution und der systematischen Desinformation ausreichend schnell voran zu treiben.

Konkretisieren Sie das mit der Schule.

Pörksen: Mein Ausgangspunkt ist: Jeder Einzelne ist heute, ein Smartphone in der Hand, längst zum Sender geworden, er ist medienmächtig, aber noch nicht medienmündig. Meine konkrete Utopie, die ich in meinem Buch über »die große Gereiztheit« genauer entfalte, lautet: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft der Gegenwart zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden, in der die Regeln des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind. Wie sehen diese Regeln aus? Sie lauten: Prüfe erst, publiziere später! Analysiere Deine Quellen! Höre auch die andere Seite! Mache ein Ereignis nicht größer als es ist! Ich behaupte, dass diese Prinzipien heute alle angehen. Und sie sollten daher in der Schule gelehrt werden. Auf das Digi-Blabla der etablierten Medienpädagogik und das diffuse Kompetenzgelaber ohne Werteorientierung kann man dabei getrost verzichten.

Und die Journalisten selbst? Angesichts überalterter Redaktionskollegien?

Pörksen: Natürlich braucht es junge Kolleginnen und Kollegen, die auf allen Plattformen unterwegs und zu Hause sind. Und noch etwas: Ich bin ein absoluter Gegner der Akademisierung des Journalistenberufs.

Fassen wir zusammen. Was ist das Hauptproblem?

Pörksen: Das Hauptproblem ist das fehlende Geschäftsmodell der Tageszeitung und des fehlende gesellschaftliche Bewusstsein für den Wert des Journalismus. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem in Verlagen die Frage gestellt wird: Rechnet sich das noch, was wir hier tun? Diese Entwicklung zeigt sich in den USA in ungebremster Radikalität; hier sind zwischen 1970 und 2016 rund 500 Zeitungen verschwunden. Dann endet die Statistik.

»Weite Teile der Politik besitzen überhaupt kein Bewusstsein für die drohende Existenzkrise«

Halten Sie Kurskorrekturen für möglich?

Pörksen: Ich halte grundsätzlich sehr viel für möglich. Allerdings: Weite Teile der Politik besitzen überhaupt kein Bewusstsein für die drohende Existenzkrise des seriösen Journalismus. Und sie haben keine Vorstellung davon, wie man dieser Krise politisch begegnen könnte. Gerechterweise muss man sofort hinzufügen: Der Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist da weiter, er weiß, dass man systemisch bedingte Krisen nicht durch politische Fensterreden zu irgendeinem Zeitungsjubiläum lösen kann. Aber ansonsten gilt: Plattformen praktizieren einen entfesselten Kapitalismus, destabilisieren ganze Gesellschaften durch Propaganda und Desinformation. Und viel zu oft schaut die Politik einfach zu. Und twittert.

Hilft ein öffentlich-rechtliches Konstrukt?

Pörksen: Der öffentlich-rechtliche Gedanke ist alt, aber modern. Die Grundidee besagt, dass die Gesellschaft für seriöse, vielfältige und intensiv recherchierte Information Geld ausgibt – und hier könnte man über ein erweitertes Verständnis dieses Gedankens diskutieren, der auch den qualifizierten Zeitungsjournalismus umfasst. Aber nochmal: Für die Frage, was einer Gesellschaft unabhängiger Journalismus wert ist, fehlt noch das Bewusstsein.

Was können Journalistinnen und Journalisten tun?

Pörksen: Es ist wichtig, über das Schicksal von Zeitungen zu schreiben, die Schwierigkeiten offen zu legen – auf dem Weg zu einem redaktionellen Bewusstsein in der Breite der Gesellschaft. Wir brauchen Anlässe für eine umfassende Wertedebatte.

ZUR PERSON

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er das Buch »Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung« im Hanser-Verlag. Darin führt er seine Utopie einer redaktionellen Gesellschaft genauer aus.

 

Ein Beispiel?

Pörksen: Die Berichterstattung über sexuellen Missbrauch erscheint mir als ein leuchtendes Beispiel dafür, was Journalismus in der Lage ist zu leisten. Der Missbrauch in der katholischen Kirche, in der Odenwaldschule, in Sportvereinen – nichts von all dem wäre ohne mutige Betroffene und engagierte Journalisten heraus gekommen, gar nichts. Kritischer Journalismus ist der Lebensnerv einer funktionierenden Demokratie.

Was sagen Sie jungen Menschen, die trotz der schwierigen Lage Journalist werden wollen?

Pörksen: Ich bestärke sie, trotz allem. Denn Journalismus beinhaltet das mächtige Privileg, den unterschiedlichsten Menschen Fragen zu stellen, der eigenen Faszination zu folgen, und es ist ein Beruf, der ein faszinierendes Dilemma enthält: Man muss schnell sein und genau, braucht Nähe und Distanz, Kreativität und Routine und das richtige Maß aus Information und Unterhaltung. Und das alles gleichzeitig. (GEA)