KREIS REUTLINGEN. Über Monate habe ich auf diesen Moment hingearbeitet. Doch nun weiß ich nicht, wie ich meine Fragen formulieren soll. Egal, was ich frage und wie ich es tue, ich fürchte, es wird mein Gegenüber, eine kleine Frau Ende 30, verletzen.
Ich sitze an diesem Montagmorgen um 9.30 Uhr in einem kleinen, schmalen Zimmer im Kreisjugendamt Reutlingen – Abteilung Zentraler Pflegekinderdienst. Links neben mir die Frau, deren leibliche Tochter in einer Pflegefamilie lebt. Wir kennen uns nicht, haben nur mal kurz telefoniert und eben diesen Termin ausgemacht. Vermittelt von Ulla Franzke vom Jugendamt. Sie ist es, die eine Brücke herstellt zwischen der Frau, nennen wir sie Katharina Schulze, und mir. Ihr wirklicher Name ist mir bekannt, aber wegen des für sie schwierigen Themas haben wir vereinbart, ihn nicht zu nennen.
»Ich hatte alles vorbereitet. Aber dann kam ein Betreuer vom Jugendamt«
Franzke dankt ihr, dass sie sich bereit erklärt hat, über ihr Privatleben zu sprechen. Schulze sagt, dass sie aufgeregt ist, und ich erzähle, warum mir an diesem Treffen mit ihr so viel liegt: Ich möchte über Pflegekinder schreiben und das aus verschiedenen Perspektiven – über zwei Pflegefamilien und eben sie als leibliche Mutter. Ich bin auch aufgeregt. Das kenne ich so nicht von mir. Schließlich arbeite ich seit 2002 als Journalist – erst während des Studiums und seit zehn Jahren hauptberuflich – und habe viel Routine. Doch diese Situation ist anders.
Ich entscheide mich als Einstieg für eine bewusst offene Frage: »Wie ist ihr Leben verlaufen?« Es ist mein Versuch, das Thema Pflegekind behutsam anzusprechen. Es funktioniert. Die Frau erzählt von Gewalt in ihrer Beziehung, einer schweren Krankheit, ihrer Schwangerschaft und ihrer Hoffnung, dass sie wenigstens mit ihrer neugeborenen Tochter zusammenleben kann. Damals, vor einem Dreivierteljahr, lebten ihre beiden anderen Kinder nicht bei ihr, sondern bei einem früheren Partner und in einer Pflegefamilie. Dann erzählt Katharina Schulze davon, dass sich ihre Hoffnung nicht erfüllte.
Das Thema Pflegekinder habe ich von meiner Vorgängerin übernommen. Sie hat es bei der Pressestelle des Landratsamts angefragt. Just als meine Vorgängerin ihren ersten Tag im Mutterschutz war, klingelte das Telefon. »Ihre Kollegin hatte wegen der Pflegekinder angefragt. Wir würden gerne einen Termin mit ihr ausmachen«, sagte eine Frau. Das Thema interessierte mich. Darum bearbeite ich es nun. Und die Recherche zieht sich über Monate.
Zurück ins Jugendamtsbüro: Katharina Schulze erzählt von der Zeit, als sie ihre Tochter Amelie (Name geändert) gerade geboren hatte und noch im Krankenhaus war. »Ich hatte alles vorbereitet. Aber dann kam ein Betreuer vom Jugendamt.« Zwei Tage nach der Geburt hatte er eine traurige Nachricht für sie. »Er hat mir gesagt, dass ich sie nicht mit nach Hause nehmen darf. Ich hatte in meiner Beziehung Gewalterfahrungen.« Darum habe der Mitarbeiter Sorgen gehabt, dass das Kind in Gefahr sei. Und doch war es für sie ein Schock. Das kann ich mir vorstellen.
So bekomme ich eine Antwort darauf, warum die Frau auch ihr drittes Kind abgegeben hat. Die kleine Amelie kenne ich schon. Ich habe sie bei ihren Pflegemüttern, einem lesbischen Paar, im Kreis Reutlingen getroffen. Ich hatte dort den Eindruck, dass es ihr wirklich gut geht und sich die beiden liebevoll um sie kümmern. Sie sprachen auch darüber, dass sie einen guten Kontakt zur leiblichen Mutter haben und diese auch zu ihnen zu Besuch kommt. Auch damals habe ich mir die Frage gestellt, warum Amelie nicht bei ihrer leiblichen Mutter aufwächst. Dass es so ist, fand ich traurig – auch wenn sie es bei den Pflegemamas gut hat.
»Ich glaube, dass es mir hilft, über meine Geschichte zu reden«
Immer wieder komme ich als Journalist gerade bei sozialen Themen in Situationen, in denen mir Gesprächspartner sehr Persönliches erzählen. Manchmal überrascht mich das. Doch es zeigt auch, dass diejeningen mir vertrauen. Die Gründe, dass sie mit mir reden, sind so unterschiedlich wie ihre Geschichten. Manche möchten sich ihr Erlebtes von der Seele reden. Andere ärgern sich über die Berichterstattung in anderen Medien und möchten mit dort transportierten Vorurteilen oder Halbwahrheiten aufräumen. Wieder andere möchten, dass andere Menschen nicht in dieselben Situationen geraten oder sie möchten eine Änderung bewirken.
Bei der leiblichen Mutter, die ihr Kind weggegeben hat, habe ich den Eindruck, dass sie sehr reflektiert ist: »Ich glaube, dass es mir hilft, über meine Geschichte zu reden«, sagt sie gegen Ende.
Im Gegensatz zum schnellen Tagesgeschäft, in dem ich aktuell Artikel für die morgige Ausgabe schreibe, nehme ich mir für intensive Recherche mehr Zeit und lasse mich gedanklich und emotional darauf ein. Da kommt es vor, dass ich auch beim Einkaufen, im Zug oder abends zu Hause an das Thema denke. Und es braucht nach solchen Treffen mit Gesprächspartnern Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Doch mich stört das nicht. Ich empfinde diese Artikel als Kür.
Oft bekomme ich bei solchen intensiv recherchierten Geschichten sehr positive Rückmeldungen. Eine Frau, über deren schwere Krankheit ich geschrieben habe, sagte mir, dass ihr beim Lesen die Tränen über das Gesicht liefen, weil ich sie so einfühlsam beschrieben hätte. Zu diesen Protagonisten halte ich auch noch Kontakt, wenn der Artikel schon lange erschienen ist. Erst neulich hat mir die Frau gesagt, dass mein Artikel über sie gerahmt im Wohnzimmer hängt.
Um intensive Recherchen voranzutreiben, sie abzuschließen und die Ergebnisse zu veröffentlichen, brauche ich Geduld. Denn sie ziehen sich oft über einen langen Zeitraum. Bei der Seite über Pflegekinder gab es fünf Termine. Das Vorgespräch war im August. Dann mussten die Verantwortlichen vom Landratsamt jemanden finden, der oder die mit mir reden möchte. Immer wieder gibt es Hürden. Manche Journalisten geben auf. Schließlich ist es viel Arbeit, die oft nebenher geschieht. Und doch zahlt sie sich aus, weil die Leser diese Artikel nur in dieser Zeitung lesen. Sie sind exklusiv und leben vom Interesse, der Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit, aber eben auch von der Empathie des Autors. Das gilt auch für ein soziales Thema wie Pflegekinder. Mir war wichtig, Einblicke in Familien zu erhalten und über sie zu schreiben. Aber zunächst musste ich Vertrauen zum Amt aufbauen.
Das Gespräch mit der Mutter entwickelt sich. »Wenn ich sie gesehen habe und gehe, ist es ein beklemmendes Gefühl für mich. Ich sage mir dann, dass ich eine schlechte Mutter bin, denn andere nehmen ihr Kind mit heim.« Auf der anderen Seite wisse Katharina Schulze, dass es Zeiten gebe, in denen sie sich nicht um ihre Tochter kümmern kann. »Ich habe manchmal so schlimme Depressionen, dass ich es nicht aus dem Bett schaffe.«
Später, als Katharina Schulze gegangen ist, spreche ich noch mit Ulla Franzke vom Jugendamt. Sie hat den Eindruck, dass ich sehr feinfühlig im Gespräch war. Das freut mich. (GEA)