REUTLINGEN. Sie ist die Königsgattung im Kulturteil: die Rezension, auch »Kritik« genannt. Als ihr (Mit-)Erfinder gilt der Hamburger Barockkomponist und Musik-Gelehrte Johann Mattheson (1681–1764). Später gehörten Genies wie E.T.A. Hoffmann, Robert Schumann oder Hector Berlioz zu jenen, die die spitze Feder zückten.
Doch ist die Kritik ein Muss? Könnte nicht auch einfach Schluss sein nach dem letzten Ton, der letzten Zugabe, dem letzten Vorhang? Nein, denn jedes Kulturereignis ist immer auch ein Statement gegenüber der Gesellschaft. Dieses Statement kann verantwortlich ausfallen, etwa wenn die Württembergische Philharmonie mit ihrem »Fugato«-Projekt auf die Situation von Flüchtlingen aufmerksam macht. Es kann auch unverantwortlich ausfallen, wenn die Rapper Farid Bang und Kollegah menschenverachtende Auschwitz-Vergleiche vom Stapel lassen.
So oder so: Ein solches Statement verlangt gesellschaftliche Diskussion. Und die Rezension holt die Diskussion aus dem rein privaten Kreis, macht den Diskurs zu einem breiteren, eben zu einem gesellschaftlichen. Der Unterschied zu Fan-Blogs im Internet: Die Kritik bietet einen unabhängigen Blick aufs Geschehen, tritt aus der reinen Anhängerrolle heraus und ordnet so auf eine andere Weise ein. Der Kritiker ist dabei nicht der Verkünder letzter Wahrheiten, sondern Anstoßgeber. Seine Sicht ist eine von vielen möglichen. Sie sollte auf jeden Fall gut begründet sein. Nicht umsonst finden sich unter den GEA-Rezensenten Musikwissenschaftler, Kunsthistoriker, Jazz- und Rock-Kenner ebenso wie Musiker.
Die meisten Kulturveranstalter haben ein großes Interesse an dieser Art von unabhängiger Bespiegelung. Verlage senden neue Romane zur Rezension in die Redaktionen; Kunstmuseen bieten Presserundgänge an; Theater- und Konzertveranstalter halten Plätze für Kritiker frei. Im Theater-, Kunst-, Jazz-, Literatur- und Klassik-Betrieb ist die Presse auch von Veranstalterseite festes Element. Im Prinzip gilt das auch fürs Pop-Geschäft. Zuweilen geht es dort aber ums große Geld – da wird es schon mal kompliziert mit der Kritiker-Akkreditierung.
Banalste Hürde: Manche Konzertveranstalter verlangen, dass die Zeitung Vorberichterstattung vorweist, ehe sie einen Rezensenten akzeptiert. Die meisten Anbieter im Südwesten haben verstanden, dass man damit die Unabhängigkeit der Berichterstattung untergräbt, und tun das nicht. Andere geben sich mit einer kurzen Ankündigung zufrieden, die ja in der Regel auch im Sinne einer Leser-Info ist. Richtig übel wird es gelegentlich bei den Megastars. So geschah es, als Madonna einen ihrer raren Europa-Auftritte vor einigen Jahren zelebrierte, dass die Pressetribüne vom Veranstalter ausschließlich mit Journalisten bestückt wurde, deren Medien Werbepartner der Veranstaltung waren. Pressefreiheit Adieu. Fairerweise muss man betonen, dass viele Über-Stars mit solchen Praktiken gar nichts am Hut haben. Für ein Stones-Konzert eine Presse-Akkreditierung zu bekommen, war noch nie ein Problem.
Ein anderes Ärgernis sind Künstler, die sich für Superstars halten, obwohl sie gar keine sind. Kurios trieben es etwa Tokio Hotel bei ihrem Comebackversuch vor einiger Zeit im Wizemann in Stuttgart: Erst wurden Rezensenten zugelassen; wenige Stunden vor Konzertbeginn zog man dann die Akkreditierungen plötzlich ohne Angabe von Gründen wieder zurück. Da war der GEA-Kritiker aber schon unterwegs. Also hörte er sich das Konzert als normaler Besucher an und schrieb trotzdem eine Rezension. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt schließlich auch für Journalisten. Manche Musiker haben auch gar kein Interesse, über ihre Szene hinaus wahrgenommen zu werden. So geschehen bei den Rappern von 102 Boyz – die gaben gleich gar keine Akkreditierungen für die Presse aus.
Besonders gebeutelt von Schikanen sind die Konzertfotografen. Dabei gehört auch ein optischer Eindruck vom Geschehen zu einer unabhängigen Berichterstattung. Häufigstes Ärgernis: Die Fotografen müssen, um in die Halle zu kommen, einen Vertrag unterschreiben, in dem sie die Rechte an ihren Bildern an das Management des Stars abtreten. Für hauptberufliche Fotografen ist das nicht akzeptabel. De facto kommt diese gerade bei Groß-Stars recht verbreitete Praxis einem Fotografierverbot gleich – während die Fans in der Halle fleißig Fotos machen.
Auch nervtötend: Die Pressefotografen werden weit von der Bühne entfernt postiert. Dabei gilt die Regel: Je älter die Stars, desto größer der Abstand. Es herrscht wohl die Hoffnung, die Falten kämen im Teleobjektiv weniger plastisch raus. Den Vogel schoss die (gar nicht mal so alte) Gruppe OneRepublic ab: Sie stellte die Fotografen in der Porsche-Arena am anderen Hallenende in den Publikumsblock. Die Situation ähnelte ein bisschen dem Stehend-Anschlag im Biathlon.
Und dann gibt es noch jene, die sich schon im Olymp wähnen. Eine Repräsentation auf einer profanen Fotoplatte kommt für sie natürlich gar nicht infrage, den lieben Gott darf man ja schließlich auch nicht fotografieren. Also gibt es auch keinen Einlass für Pressefotografen bei Bob Dylan oder Nick Cave. (GEA)
JOURNALISMUS-KAMPAGNE
Mit der Kampagne »Journalismus zeigt Gesicht« wollen die baden-württembergischen Zeitungsverlage auf die Bedeutung des Journalismus hinweisen und die Arbeit der Journalisten transparent machen. In der Serie beschreiben wir, wie der Alltag in der GEA-Redaktion aussieht, und erklären, nach welchen Kriterien wir arbeiten. (GEA)