MÜNSINGEN. Es passiert immer wieder. Nachts, gern so zwischen eins und vier. Da liege ich dann wach, adrenalingeflutet, und schreibe meinen Kommentar um und um. Ist diese Formulierung vielleicht zu hart? Oder bin ich zu wischiwaschi? Müsste jener Aspekt nicht noch besser berücksichtigt werden? Das Problem ist: Der Kommentar ist schon gedruckt, die Zeitung bereits auf dem Weg zu den Lesern. Zu spät, sich jetzt noch immer darüber Gedanken zu machen.
Aber das tue ich, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die die Arbeit in schöner Regelmäßigkeit mit nach Hause nehmen. Manchmal sogar dann, wenn bloß Routinegeschäft abzuarbeiten war, Bebauungsplan im Gemeinderat, Jubiläumsfest beim Sportverein. Auch dann kann ich nach mehr als dreißig Berufsjahren wie ein journalistischer Anfänger mitten in der Nacht aufschrecken und mich fragen: »Heißt der Vereinsvorsitzende nicht Kurt? Und habe ich etwa Karl geschrieben?«
Ausdauernd werden diese Nacht- oder Sonderschichten, wenn mich Texte und Themen von Relevanz beschäftigen oder beschäftigt haben – Geschichten, die mir oder meinen Gesprächspartnern besonders wichtig sind. Da formuliere ich dann wieder und wieder vor mich hin, suche nach der guten oder besseren Wendung, morgens beim Hundespaziergang ebenso wie beim Autofahren. Schön, wenn diese Geistesblitze in einen noch unfertigen Artikel eingearbeitet werden können. Aber oft ist die Zeitung ja schon gedruckt …
Besonders herausfordernd ist es, zu kommentieren. Da müssen wir uns als Lokalredakteure aus dem Fenster lehnen, Farbe bekennen. Da können wir uns nicht hinter dem Objektivitätsbemühen des Berichterstatters verstecken. Wir müssen loben (leicht) und kritisieren (schwer). Denn wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, ist das Kritisieren immer dann besonders mühsam und heikel, wenn einem am Gegenüber etwas liegt.
Und das tut es. Wer die Arbeit von Bürgermeistern, die kommunalpolitischen Höhenflüge oder Tiefpunkte von Gemeinderäten seit vielen Jahren begleitet, der entwickelt Anteilnahme, Verständnis, oft auch Sympathie. Was »meine« St. Johanner oder »meine« Hohensteiner so treiben, das interessiert und begeistert und ärgert mich, je nachdem. Auf jeden Fall ist es nichts, worüber ich aus kühler Distanz zu Gericht sitzen kann wie ein Politikredakteur über den neuesten Gesetzentwurf der Bundesregierung. Zum einen habe ich als Lokalredakteurin durchaus Verständnis für manche Unzulänglichkeiten »meiner« Kommunalpolitiker, die ja großteils ehrenamtlich tätige Laien sind. Und zum anderen treffe ich sie morgen oder übermorgen wieder.
Im Lokaljournalismus sind die Leute, über die wir schreiben, zugleich die Leute, für die wir schreiben – unsere Leser. Das macht das Mit-, Für- und (manchmal) Gegeneinander so spannend. Frau Merkel regt sich bestimmt nicht auf, wenn der GEA sie kritisiert – der Bürgermeister von Hohenstein oder St. Johann tut es. Er oder seine Gemeinderäte sind vielleicht auch stärker oder persönlicher getroffen als beabsichtigt.
Kommentieren ist anstrengend. Wir Lokalredakteure werden es trotzdem wieder tun. Dann, wenn etwas vorbildlich gelungen, aber auch dann, wenn etwas unserer Meinung nach komplett daneben ist. Wenn Aussagen oder Entscheidungen »unserer« Gemeinderäte nach einer Anmerkung, einer Einordnung, einer Kommentierung schreien. Das ist schließlich auch eine Form, ihr kommunalpolitisches Handeln ernst zu nehmen.
Was in den Städten und Gemeinden entwickelt wird, gut gelingt oder im Argen liegt, interessiert Kommunalpolitiker, Journalisten und die dort lebenden Menschen gleichermaßen. Es ist unsere gemeinsame Lebenswelt, es sind unsere gemeinsamen lokalen Themen. Diese ernst zu nehmen, ist eine Zeitung ihren Lesern schuldig. Nicht nur den Gemeinderäten unter ihnen. (GEA)
DIE KAMPAGNE
Mit der Kampagne »Journalismus zeigt Gesicht« wollen die baden-württembergischen Zeitungsverlage auf die Bedeutung des Journalismus hinweisen und die Arbeit der Journalisten transparent machen. In der Serie beschreiben wir, wie der Alltag in der GEA-Redaktion aussieht, und erklären, nach welchen Kriterien wir arbeiten. (GEA)