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Aktuell Mobilitätstage

Wie Experten die Zukunft des Autos einschätzen

Im Vorfeld der »Reutlinger Mobilitätstage« hatten Kreissparkasse, Katholische Bildung und GEA zu Vortrag und Diskussion über »Mobilität und Stadtentwicklung der Zukunft« geladen.

Claus Doll (von links), Ulrike Hotz, Herbert Müther und Bernd Schott warfen einen vorsichtigen Blick in die Zukunft.  FOTO: NIE
Claus Doll (von links), Ulrike Hotz, Herbert Müther und Bernd Schott warfen einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. FOTO: NIETHAMMER
Claus Doll (von links), Ulrike Hotz, Herbert Müther und Bernd Schott warfen einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. FOTO: NIETHAMMER

REUTLINGEN. Zunehmende Reglementierung des Autoverkehrs, ab 2035 Verbannung der Verbrenner aus den Städten: Professor Dr. Claus Doll sieht eine weltweite Entwicklung, die die Achalmstadt nicht ausnehmen wird. Beim Podium »Mobilität und Stadtentwicklung der Zukunft« skizzierte der Leiter des Bereichs Mobilität am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe seine Vorstellung von urbaner Mobilität: Danach werde es künftig ein Kern-Netz aus ÖPNV-Angeboten geben, dazu ein Sammel-Taxi-System. Aktives Bewegen sei ebenfalls angesagt, »grüne Lebenswerte« regierten. Die lokale Distribution von Waren leisteten auf der letzten Meile im urbanen Raum elektrische Kleinfahrzeuge.

Man wolle »das Auto nicht verteufeln«, versicherte Moderator Professor Dr. Herbert Müther (Universität Tübingen), der mit Reutlingens Erster Bürgermeisterin Ulrike Hotz und Bernd Schott, dem Tübinger Umwelt- und Klimaschutzbeauftragten, auf dem Podium saß. Im Vorfeld der »Reutlinger Mobilitätstage« hatten Kreissparkasse, Katholische Bildung und GEA dazu geladen.

Das war ganz im Sinne des Referenten. Doll erwartet in Sachen Mobilitätswende nämlich keine »Knalleffekte«, die das herkömmliche Autofahren unnötig machen, sondern einen schleichenden Prozess. Die neue Mobilität sei ein »Öltanker«, die Veränderung des Modal Splits, der Verkehrsanteile, ein »mühsames« Geschäft. insbesondere weil Verhaltensänderung erforderlich sei.

Damit sich Menschen nicht mehr automatisch ins eigene Auto setzen, sondern nach Alternativen schauen und sie passgenau und flexibel im Mix einsetzen, greifen Kommunen unterschiedlich steuernd ein durch ein System von Restriktionen und verbesserten Angeboten. Helfen ÖPNV-Projekte in Deutschland bei der Verkehrsminimierung? »Ein bisschen schon«, sagte Doll vorsichtig.

Was gedeiht, ist das Carsharing in den Städten. Positiver Nebeneffekt: Bald zehn Prozent der Leihflotten-Fahrzeuge sind unterdessen elektro-angetrieben. Beim Bike-Sharing hingegen stimmen die Zahlen laut Doll nicht.

Vergleichsweise günstige Taxi- oder Mitfahrangebote per App vermittelt, wie sie das amerikanische Unternehmen Uber anbietet, unterliegen derweil in Deutschland starker Reglementierung. Weltweit hat Uber Zuwächse, sorge aber auch für erheblichen Verkehr in den Städten. Manche nehmen laut Claus Doll schon Lizenzen zurück.

»Neue Mobilität kann gut sein«, sagte der Verkehrsexperte, der sich gern vage ausdrückt. Es bestehe aber immer die Gefahr der Übernutzung, wenn etwas wenig kostet und immer verfügbar ist. Das würde auch das autonome Fahren betreffen – das nach Dolls Prognose frühestens in 20 Jahren bei uns Realität wird. Es sei fraglich, ob angesichts von Mehrverkehr tatsächlich CO2 eingespart werde.

Euphorie löst beim Referenten auch die E-Mobilität nicht aus. »Batteriefahrzeuge mit Ökostrom kann man machen.« Vor allem E-Busse könnten dann in den Städten aufgrund ihrer hohen Fahrleistung sinnvoll sein. Ohne Zuschüsse belasteten sie jedoch stark die Kasse der Betreiber. Elektromobilität sei »nicht absurd schlecht«, man müsse aber »die ganze Rechnung« aufmachen. Der Referent will die sozialen Folgen der Batterieproduktion in den Rohstoff-Lieferländern wie Chile, Kongo oder China bedacht haben. Schwer zu verfolgende Lieferketten sorgten dort für Intransparenz. »Wir exportieren unser schlechtes Gewissen.«

Ulrike Hotz fühlte sich nach eigenem Benehmen »erschlagen von den vielen Zahlen« im Vortrag des Referenten. Die Reutlinger Baubürgermeisterin kehrte unter die Achalm zurück. Dort setzt man auf Innenentwicklung und das Konzept »Stadt der kurzen Wege«. Das neue Stadtbus-Angebot soll ab September dieses Jahres dem ÖPNV zwei Millionen neue Fahrgäste bescheren. Haltepunkte der Regional-Stadtbahn sollen dereinst ein alternatives Mobilitätsangebot unter anderem an 6 000 Bosch-Mitarbeiter machen.

»Die neue Mobilität ist ein Öltanker«

Hotz brachte als längerfristige Vision auch autonom fahrende Quartiersbusse ins Gespräch – und eine schnelle S-Bahnverbindung entlang der B 27 gen Stuttgart ins Gespräch (siehe Kommentar Seite 11).

Individualverkehr werde es immer geben, er müsse aber reduziert werden. "Wir wollen gute Alternativen bieten. Dazu gehört auch ein gut ausgebautes Radnetz, das die Stadt laut Ankündigung der Baubürgermeisterin nach dem Bus-Projekt im Herbst in Angriff nehmen will.

Auf intelligente Innenentwicklung und den Ausbau des Umweltverbunds setzen auch die Nachbarn in Tübingen. Bernd Schott sprach in diesem Zusammenhang vom Mut, den öffentlichen Raum anders aufzuteilen. Dabei sei wichtig, relevante Betroffene mitzunehmen. Wenn es etwa darum gehe, Auto- in Radabstellplätze umzuwandeln. Das Kernaltstadt-Konzept sei im Konsens mit dem Handel erarbeitet worden. Die Tübinger Händler hätten erkannt, dass die Rad fahrenden Kunden »die besseren seien«.

Zwei Drittel weniger Autos in der Stadt, so die konkrete Vision des Tübinger Umwelt- und Klimaschutzbeauftragten, dazu eine Regionalstadtbahn, deren Haltestellen von autonom fahrenden Zubringern angefahren werden. Viel mehr Platz soll es dann in der Stadt geben, Raum auch für klimafreundliche Gestaltung mit vielen Grün- und Wasserflächen.

Paul Schlegl, der Leiter des KEB-Bildungswerks, hatte zu Beginn des Abends betont, das Thema vertrage »viel Kreativität« und nur »wenig Ideologie«.

In der anschließenden Publikumsrunde ging es um beides. Die einen sehen die neue Mobilität als Bedrohung, geißeln »Autoverteufelung« und »Umerziehung« auf ökolinkes Denken.

Anderen beflügelt Veränderung die Fantasie. So regte ein Bürger an, mit Bosch-, Daimler- und Hochschulunterstützung entlang der B 312 eine autonome Teststrecke von Reutlingen nach Tübingen zu führen. Mehr Grün, mehr Radfreundlichkeit, und zwar sofort: Eine Zuhörerin forderte, nichts auf die lange Bank zu schieben: »Reutlingen kann ab heute eine sauberere Stadt werden.«

Ein Anderer wollte erfahren, wie denn die Experten zur autofreien Innenstadt stehen. Das Thema sei sehr schwer anzugehen, entgegnete ihm Claus Doll. Die Widerstände seien groß angesichts des herrschenden »auto-zentrierten Lebensstils« der Bürger.

Dass bisweilen doch was geht, hatte der Referent selbst zuvor in anderem Zusammenhang ausgeführt: In Freiburg sank der Autoanteil in knapp 20 Jahren von 32 auf 21 Prozent. (GEA)