REUTLINGEN/REGION. Erstaunlich und erfreulich, wie viele Menschen aus der ganzen Region sich an die vor 50 Jahren eingestellte Reutlinger Straßenbahn erinnern. Und mit welch vielfältigen Geschichten: Da geht es um einzelne Schaffner ebenso wie um den eigenen Studenten-Job als Zugbegleiter; um die per Schmalspurschiene zurückgelegten Schulwege ebenso wie um Fahrten zum Freizeitvergnügen an den Baggersee im Neckartal. Und wie kam es, dass ein Schaffner mal hinter der Tram herhecheln musste? Auch das beantworten GEA-Leser in diesem zweiten Teil unseres Straßenbahn-Leser-Forums.
Dr. Eberhard Rakoczy, Rommelsbach: Stehen war als Schaffner Pflicht
Vor fast 60 Jahren habe ich in den Semesterferien als Schaffner bei der Straßenbahn auf der Strecke vom Marktplatz nach Altenburg gejobbt. Die Schaffnermütze musste ich zum Glück nicht aufsetzen, aber Stehen, selbst im leeren Wagen, war Pflicht. Um 5 Uhr morgens ging es mit dem Personalwagen zum Depot nach Oferdingen. In Altenburg stiegen die ersten Fahrgäste ein. Gegen 10.30 Uhr hatte ich die 1. Pause, die 2. war in Altenburg, der Endstation. Dort kaufte man beim Metzger ein Vesper. Ein Kollege aus Altenburg hat immer dafür gesorgt, dass in seiner offenen Garage ein Kasten Bier mit Kässle bereitstand. Danach brausten wir wieder den Berg nach Oferdingen hinauf, um die kleine Verspätung wettzumachen. Einmal stießen zwei Bahnen beim Pfarrhaus Rommelsbach zusammen, da hatte ich aber frei. Die Arbeit war sehr abwechslungsreich und hat Spaß gemacht.
Später habe ich im Hörsaal in München einen ehemaligen Fahrgast getroffen. Er fragte verwundert: »studieret Schaffner jetzt au«? Leider gibt es keine Straßenbahn mehr. Meine Familie und ich hätten sie gern genutzt.
Professor Dr. Willi Weiblen, Reutlingen: Dank Tram musste mein Vater nie zum Elternabend
Nach der Trennung des Netzes mit der zweigleisigen Endhaltestelle der Linien 1 und 2 in der unteren Wilhelmstraße waren die Straßenbahnen ein Frequenzbringer und brachten nicht nur Kunden, sondern auch Laufkundschaft, weil man warten musste. Mein Vater war Inhaber des Uhrengeschäftes Weiblen in der Wilhelmstraße 15, das dort 49 Jahre ansässig war. Er nahm während meiner 13-jährigen Schulzeit an keinem Elternabend teil, weil ihn so mancher Lehrer auf dem Weg zum Bahnhof oder beim Warten auf die Abfahrt der Bahnen über meine Leistungen auf dem Laufenden hielt. Die Endhaltestelle trug also zur Kommunikation, zur Belebung und letztlich zum Umsatz bei.
Kurt Eith, Reutlingen: In der Kurve vor Altenburg abgesprungen
Als Über-90-Jähriger erinnere ich mich an die Zeit nach dem letzten Krieg, als es noch kein Freibad Markwasen gab und wir zum Baden an den Baggersee Weimar bei Altenburg gingen. Die Straßenbahn dorthin musste, bevor es ins Neckartal hinabgeht, eine enge Kurve fahren und wurde entsprechend langsamer. Dies nutzten wir, um rauszuspringen, denn von dort war der Fußmarsch zum See kürzer als von der Endstation am Altenburger Bahnhof. Das war möglich, da der Zu- und Ausstieg nur durch eine Stange versperrt war. Der Schaffner hat zwar ein Auge darauf gehabt, dass niemand außerplanmäßig aussteigt, aber immer mal wieder hat es trotzdem geklappt, dass wir rausg’hopst und runter zum See sind.
Helmut Beck, Reutlingen: Einige Unfälle gab’s und viel Spaß beim Pulverlegen
Ab Herbst 1946 fuhr ich von Rommelsbach nach Reutlingen zur Schule. Der Preis für eine Schülermonatskarte betrug anfangs 1 Mark. Als er auf 4 Mark erhöht wurde, gab es großen Protest, in der Folge fuhren die Schüler teilweise – aber nur vorübergehend – mit dem Fahrrad. Meinen ersten Bahnunfall erlebte ich mit etwa 14 Jahren mit etwa zehn Gleichaltrigen. Damals fuhr ein leerer Triebwagen vom Friedhof in Rommelsbach abwärts. In der Kurve vor dem Pfarrhaus »hüpfte« der in Folge viel zu hoher Geschwindigkeit aus den Schienen, dabei wurde die Oberleitung aus der Verankerung gerissen. Die fiel auf den Zaun eines Hauses. Der danach unter fast 1000 Volt Spannung stehende Metallzaun wurde bis zum Eintreffen eines Reparaturtrupps von Pfarrer R. Schmid bewacht. Der Triebwagen fuhr außerhalb der Schienen vom Pfarrhaus bis unterhalb der Kirche circa150 Meter weiter. Er blieb quer auf der Straße etwa einen Meter vor einem Haus stehen. Der »rasante Fahrer« wurde danach für einige Wochen zum »Schaffner« degradiert. Ein weiterer Unfall geschah im Raum Oferdingen: Triebwagen Nr. 53 hatte einen Frontalzusammenstoß, dabei wurden Fahrerkabine nebst Antriebsaggregat zerstört.
Am Karlsplatz Reutlingen mussten die Fahrer die Kabine für die Rückfahrt wechseln. Zur Mittagszeit wurde ein Fahrer in der Mitte aufgehalten. Währenddessen rollte der Triebwagen führerlos Richtung Fahrbahn. Ich, damals 13, bediente deshalb verbotenerweise die Handbremse. Der Fahrer lobte mich und bedankte sich.
FORTSETZUNG FOLGT
Zur Erinnerung an die Reutlinger Straßenbahn bat der GEA Leserinnen und Leser um Erinnerungen und Fotos, die sie mit jener fast 75 Jahre umspannenden Ära verbinden. Die Rückmeldungen bis zum Einsendeschluss am 30. Oktober waren so zahlreich, dass ein drittes Leser-Forum zum Thema im GEA-Lokalteil folgt. Falls nun noch Einsendungen eingehen, werden die unter der Rubrik »Leserbriefe« publiziert. (dia)
Von der Straße nach Pfullingen bog ein Autofahrer nach links über die Schienen, ohne rückwärts zu schauen. Die parallel fahrende Straßenbahn erfasste die hintere Hälfte des DKW und warf diesen in den Straßengraben. Ich wurde bei der Unfallaufnahme als Zeuge vernommen, dabei konnte ich die Unschuld des Wagenführers bezeugen. Ich erlebte auch einen Achsbruch in Orschel, einen Oberleitungsabriss am Karlsplatz und eine »Schwarzfahrt« am Monatsersten.
Alles in allem erinnere ich mich gerne an viele Schulfahrten. Besonderen Spaß bereitete uns das Pulverlegen auf die Schienen, dabei krachte es laut. Anfangs hielten die Bahnen noch an, später nicht mehr, weil keine Gefahr drohte. Das Pulver holten wir als 10- oder 11-Jährige aus einem Munitionslager der ehemaligen Wehrmacht im Schönbuch. Wir knackten Pulver für verschiedene Zwecke. Es kümmerte sich niemand um unsere gefährliche Betätigung!
Clemens Zaddach, Reutlingen: Idee für unterirdischen Straßenbahn-Bahnhof
Ich habe noch einen Liniennetzplan der Reutlinger Straßenbahn von 1966. Das war zu Zeiten, als neue Stadtteile wie Orschel-Hagen entstanden, die verkehrstechnisch an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen werden mussten. Der Verkehr nahm damals stark zu. Die Straßenbahn wurde als Verkehrshindernis im öffentlichen Straßenverkehr angesehen.
Pläne für ein kombiniertes Straßenbahn- und Busnetz von 1966 für Reutlingen und Umgebung, zur Verfügung gestellt von Clemens Zaddach.
Man träumte noch davon, statt die Straßenbahn einzustellen, für sie einen unterirdischen Bahnhof unter dem Karlsplatz zu bauen. Die Steigung von Unter den Linden her, an der es immer wieder Probleme gab, wäre damit abgeflacht worden oder entfallen. Oben hätte es Platz für den Bus- und Autoverkehr gegeben. Viele andere Städte wie Stuttgart haben das gemacht. Eine gute Zukunftsidee. Aber aus irgendwelchen Gründen wurde anders entschieden.
Bernd K., Eningen: Von Schülerstreichen und Schilderrettung
Ab dem Jahr 1963 fuhren meine Mitschüler und ich mit der Linie 1 um 7.03 Uhr ab Eningen Bahnhof nach Reutlingen (Marktplatz) zur Schule. Jeder hatte seinen Stehstammplatz auf der hinteren Plattform des letzten alten Beiwagens. Meist ging es dabei recht lustig zu. Denn man kannte die Eigenarten der verschiedenen Schaffner: Einer meinte, er müsse immer unsere Schultaschen ordentlich stapeln. Wir nahmen es mit Humor.
Andere waren weit weniger beliebt bei uns. Auf der Heimfahrt an der Haltestelle Erwin-Seiz-Straße stieg einer jener Schaffner aus dem Wagen, um zu kontrollieren, dass alle Fahrgäste eingestiegen waren. In den alten Beiwagen gab der Schaffner das Signal zur Weiterfahrt, indem er an einem Lederband, das durch den ganzen Wagen gespannt war, zog. Durch das damit ertönende Klingelzeichen wusste der Fahrer, er konnte jetzt weiterfahren. So kam es, wie es kommen musste: Ein böser Bube zog am Lederband, woraufhin der Fahrer natürlich weiterfuhr. Der Schaffner hechelte bis zum Südbahnhof hinter dem Zug her, wo er ihn in der Tat erreichte.
Jahre später, 1974, jobbte ich einige Wochen selber als Schaffner. Man hatte jeden Tag Dienst, die Personaldecke war gegen Ende dünn. Dadurch verdienten wir Studenten nicht schlecht. Zum Personal gehörend, durfte ich mit Freundin die letzte Fahrt mitmachen.
In Eningen an der Ecke Karlstraße – Bahnhofstraße stand ein hölzerner Wegweiser »Zum Bahnhof« mit der Figur eines Mannes mit Koffer obendrauf. Die Straßenbahn war Geschichte, der Holzmann faulte vor sich hin. So beschlossen ein Freund und ich, ihn eines Nachts ins Trockene zu holen. Der Koffermann war rasch heruntergeholt, da morsch, und wurde so gut es ging restauriert und angemalt. Einige Zeit hing er bei uns im WC, bis ein Ehrenamtlicher des Eninger Heimatmuseums zu mir sagte: »Du hast den Koffermann, den will ich fürs Heimatmuseum.« Er hatte uns wohl damals bei der nächtlichen Aktion beobachtet. Jetzt hängt er dort, frisch bemalt. (GEA)