REUTLINGEN/REGION. Positive Kindheitserinnerungen sind tief im Bewusstsein verankert. Das zeigen ungemein detailreiche Erinnerungen der GEA-Leser an die bereits vor einem halben Jahrhundert aus dem Stadtbild verschwundene Straßenbahn. Unsere gemeinsame Reise in die Vergangenheit endet mit dieser dritten Folge des Leser-Forums, in der zu winterlichen Problemen Beobachtungen zur Besatzungszeit kommen und Hinweise darauf, wo noch Waggons zu sehen sind.
Thomas Ott, Pfullingen
Im Winter wurde Sand auf die Schienen gestreut
Von 1965 bis 1972 fuhr ich mit der Straßenbahn von der Haltestelle Dietweg zur Haltestelle Karlsplatz nach Reutlingen. Ich wohnte damals mit meiner Familie in einem Reihenhaus in der Römerschanze. Von dort war es ein kleiner Fußmarsch bis zur Haltestelle Dietweg und ich musste die Rommelsbacher Straße überqueren, wo es noch keinen Zebrastreifen gab.
Die Straßenbahn kam von Orschel-Hagen. Wo es damals eine große Wendeschleife gab. Ich traf mich mit meinen Schulkameraden immer im Triebwagen vorne beim Fahrer. Die Fahrt ging über die Haltestelle Reithaus zur Ausweichstelle Schieferbuckel, dort musste die Bahn auf die Gegentram warten.
Von da an ging die Fahrt zur Haltestelle Friedhof Unter den Linden und weiter unter der Eisenbahnbrücke hindurch zur großen Haupthaltestelle am Karlsplatz. Von dort gingen wir in kurzen Fußmarsch zum Spitalhof. Dort war eine Zweigstelle für die unteren Klassen des Friedrich-List-Gymnasiums.
Im Sommer standen wir an der rot-weißen Sperrstange an der Tür und ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen.
Winters, wenn es kalt und nass war, hatte die Straßenbahn große Mühe, den kleinen Hang nach der Eisenbahnbrücke hochzukommen.
Die Fahrer streuten mit der Sandvorrichtung Sand auf die Schienen, gaben dann mächtig Gas. Die Innenbeleuchtung flackerte und ging schließlich ganz aus. In den meistens Fällen schafften die Fahrer es, zur Haltestelle Karlsplatz zu gelangen. In seltenen Fällen mussten die Fahrgäste auf offener Strecke aussteigen, damit die Bahn vollends zum Karlsplatz hochkam. Dieses Problem wurde später gelöst, indem die Bahn eine Haltestelle mit Rangiergleis vor der Eisenbahnbrücke bekam. Dann nach einigen Jahren wurden die alten Holzstraßenbahnen durch moderne Gelenktriebwagen ersetzt. Wir konnten im Sommer nicht mehr den Fahrtwind genießen.
1972 wurde noch eine Ausweichstelle vor dem Dietweg gebaut, die aber nur sehr kurze Zeit in Betrieb war, bis 1974 der Straßenbahnverkehr eingestellt und durch Busse ersetzt wurde. Das betraf mich aber nicht mehr, da ich 1972 meinen Führerschein gemacht habe und nun mit einem alten R4 zur Schule fuhr.
Der Brauchtumsverein Pfullingen restauriert einen Triebwagen aus jener Zeit und vielleicht habe ich noch einmal Gelegenheit, an der offenen Tür mit der Sperrstange mir den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen.
Jörg Scherieble, Unterhausen
Als Vierjähriger allen Mut zusammengenommen
Ich habe eine Geschichte zum Thema Tram, die sich um 1970 herum zugetragen hat, als ich vier Jahre alt war. Ich bin in der Heinestraße in Reutlingen und später in Orschel-Hagen aufgewachsen. Mein Vater arbeitete bei der Firma Heinzelmann in der Planie. Er hat sich um Auslandsstudenten gekümmert, die aus der ganzen Welt kamen, unter anderem aus Afrika. Einer der Studenten schenkte ihm zum Dank eine geschnitzte Figur aus Ebenholz. Auf mich als kleiner Bub hat diese Figur eine Angst einflößende Wirkung gehabt. Meine Eltern nannten sie »Holz-Done« (Done für Toni). Als Garnisonsstadt gab es in Reutlingen viele französische Soldaten, die ihre Wurzeln in Afrika hatten, und so kam es, dass ich in der Straßenbahn meinen ersten dunkelhäutigen Menschen zu Gesicht bekam. Für mich als Kind war das so beeindruckend, dass ich meine Augen nicht von dem Soldaten nehmen konnte. Auf den Hinweis, ich solle doch nicht so gugga, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, bin zu dem Soldaten hingelaufen und hab stotternd gefragt, »bbbbb-bisch Du ddd-dr Holz-Done?«. Er hat gelächelt, aber nichts verstanden, und meiner Mutter war es ein klein wenig peinlich. Der Holz-Done steht heute noch bei uns im Wohnzimmer und die Artikel über die Reutlinger Tram haben die Erinnerung wieder hochkommen lassen. Danke schön dafür!
Hans Hubert Krämer, Reutlingen
Der halbe Waggon aus der Kinderabteilung
Es gibt noch eine Reutlinger Straßenbahn beziehungsweise einen halben Waggon, den viele Reutlinger kennen. Er stand einst im Obergeschoss des Modehauses Haux in der Kinderabteilung und sollte uns Kinder so lange beschäftigen, bis die Mütter sich ebenfalls neu eingekleidet hatten. Er ist lackiert wie damals alle Reutlinger Wagen, allerdings ein Klon, der nie Reutlinger Gleise sah. Er musste beim Umbau zum Modehaus Zinser weichen und steht nun auf dem Areal des Gewerbeparks »Carl Schirm« in Kirchentellinsfurt. Hin und wieder erfüllt er bei Veranstaltungen wichtige Funktionen. (GEA)
KÜNFTIG IM LESERBRIEFTEIL
Alle Forumsbeiträge, die den GEA bis zum Einsendeschluss erreichten, sind mit dieser Folge veröffentlicht. Damit endet unser Rückblick auf 75 Jahre Straßenbahn. Wer noch etwas beitragen möchte, möge dies gern auf den Leserbriefseiten tun. (GEA) leserbriefe@gea.de