REUTLINGEN. In Zeiten des Virus sind ganz viele am Boden zerstört. Es ist deprimierend und beängstingend zu erleben, wie das öffentliche Leben Stück für Stück verschwindet. Wieso also nicht mal mit demütig gesenktem Blick nach unten die noch verbliebene Freiheit nutzen? Denn Asphalt ist eben nicht gleich Asphalt. Der gängige Straßenbelag kommt in unterschiedlichen Graustufen und Körnigkeiten daher, und ist vielerorts ein Flickenteppich. Jene bauliche Verdichtung, die sich sichtbar und unüberhörbar durch Reutlingen arbeitet, hinterlässt auch auf alten Straßen ihre Spuren. Auf einmal taucht da in Sichtweite einer Baustelle im ausgebleichten Hellgrau ein nagelneues Schwarz auf. Dort liegt dann wohl ein Wasseranschluss im Erdreich. Auch an anderen Stellen sind frische neben alten Markierungen zu sehen. Der Verkehrsraum gleicht mit seinen aufgepinselten Zeichen vor allem an Kreuzungen einem Kunstraum. Ausstellung rund um die Uhr geöffnet, Eintritt frei.
Die weißen Zacken erinnern den - nunmehr nur noch wenn's unbedingt nötig ist - ins Auto steigenden Menschen an seine Pflicht, Vorfahrt zu gewähren. Geradezu inflationär hat sich die Zahl 30 auf den Straßen breit gemacht. Dazu noch diese relativ neuen Markierungen für Radwege und Fahrradstraßen. Nur wenn alles so leer wie jetzt ist, hat man wirklich Zeit die Grafik und Typographie zu würdigen. Auf einmal fällt auch auf, wie schön ein gußeiserner Kanaldeckel im Gegenlicht aussieht.
In der Einsamkeit des stillen Stadtwanderers, der nur ein wenig frische Luft schnappen möchte, wird dann auch die geballte Kraft der Natur im urbanen Raum offenkundig. »Am meisten Unkraut trägt der fetteste Boden«, hat William Shakespeare geschrieben. Also dokumentiert der zwischen den Ritzen des Gehweges und dem Bordstein sprießende Löwenzahn den Wohlstand Reutlingens? Jedenfalls beeindruckt wie unbeeindruckt das Grün seinen Weg findet. Je schmaler der Weg, umso mehr wilde Natur am Boden, wobei Friedrich Schillers Zitat »durch diese hohle Gasse muß er kommen«, aktuell nicht stimmt: da kommt keiner. Höchstens Erinnerungen.
Den leergefegten Campus der Hochschule Reutlingen zieren Betonplatten, die schon dort waren, als diese Bildungseinrichtung noch Pädagogische Hochschule gewesen ist. Auf der verwitterten Oberfläche hat sich ein Geflecht von Zeitspuren breitgemacht, das in der Nahaufnahme an ein Flußdelta erinnert. Alles nur eine Frage der Perspektive. Hier die akademische Vergangenheit, dort die kindliche Zukunft. In einem Wohngebiet haben kleine Herrschaften mit bunter Kreide ein nettes Spiel auf die Pflastersteine gemalt. Man schaut es sich an, und macht einen weiten Bogen um die spielende Gruppe. Das Virus macht aus dem sozialen Wesen namens Mensch aus Solidarität einen Einzelgänger auf dem Boden der Tatsachen. Schlimm? Laut Modeschöpfer Karl Lagerfeld nicht: »Für mich ist Einsamkeit der Höhepunkt des Luxus. Ich brauche Zeit für mich selbst, sonst wäre ich nicht das, was ich bin«. (GEA)