WIEN. Österreich geht ab Dienstag wegen der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems für knapp drei Wochen in einen sogenannten Lockdown. Wie zu Beginn der Corona-Krise im Frühjahr müssen die meisten Geschäfte und Schulen schließen.
Das Verlassen des privaten Wohnraums ist nur aus triftigen Gründen wie der Erfüllung von Grundbedürfnissen, der Arbeit, der Hilfe etwa für Angehörige sowie zur Erholung im Freien erlaubt. Die Regierung um Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündete die Maßnahmen am Samstag in Wien.
»Auch wenn sich niemand einen zweiten Lockdown wünscht, so ist der zweite Lockdown das einzige Mittel, von dem wir verlässlich wissen, dass es funktioniert«, sagte Kurz. Die Beschränkungen gelten ab Dienstag, 0.00 Uhr, und sollen am 6. Dezember enden. Die Ausgangsbeschränkungen müssen alle zehn Tage vom Hauptausschuss des Parlaments neu genehmigt werden.
Offen bleiben Geschäfte für die Deckung des täglichen Bedarfs, etwa Supermärkte, Drogerien, Apotheken und Banken. Schulen müssen auf Fernunterricht umstellen. Sie sollen aber, wie auch Kindergärten, Betreuung bei Bedarf anbieten. Arbeitnehmer sollen, wenn möglich, im Homeoffice arbeiten.
Private Treffen sind auf einen Partner, einzelne engste Angehörige oder Bezugspersonen beschränkt. Menschen, die allein leben, sollten eine einzige Person auswählen, mit der sie in Kontakt sein wollen, bat Kurz. »Meine eindringliche Bitte für die nächsten Wochen ist: Treffen Sie niemanden! Jeder soziale Kontakt ist einer zu viel«.
Es sei das Ziel, am 7. Dezember Schulen und Handel wieder öffnen zu können. »Je mehr Menschen sich daran halten, was hier vorgegeben wird, desto kürzer wird dieser Zustand anhalten«, betonte Kurz. So könne man das Weihnachtsfest retten.
Schon seit dem 3. November sind in Österreich die Gastronomie, der Tourismus sowie Kulturbetriebe und Freizeiteinrichtungen geschlossen. Ausgangsbeschränkungen galten bisher von 20.00 bis 6.00 Uhr. Die Infektionszahlen stiegen in der ersten Novemberhälfte aber zunächst weiter an. Am Freitag lag die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen 7 Tagen bei 554,2, in einzelnen Regionen gar bis zu 850.
Der Zielwert bei den Neuansteckungen binnen sieben Tagen liege bei weniger als einem Zehntel des aktuellen Werts, betonte Kurz. Behörden könnten mittlerweile 77 Prozent der Neuansteckungen nicht zurückverfolgen. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sagte, aktuell stecke jeder Corona-Infizierte statistisch gesehen 1,2 andere Menschen an. Diese sogenannte Reproduktionszahl müsse auf 0,9 gesenkt werden - dann würden 10 Erkrankte rechnerisch 9 Menschen anstecken.
Anschober warnte, dass das Gesundheitssystem in vielen Bereichen an seine Grenzen komme. »Wir brauchen deshalb eine Notbremsung und das wirklich sofort«, sagte er. Der Bremsweg - die Zeit bis zu einer nachhaltigen Senkung der Zahlen - betrage zwei Wochen.
Die Krankenhäuser sehen bereits dem Limit entgegen, wie am Samstag unter anderem der oberste Intensivmediziner des Landes erneut warnte. »Wenn das Ganze in den nächsten Tagen in dieser Geschwindigkeit zunehmen sollte, kommen wir in die Situation einer Triage«, sagte der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin, Klaus Markstaller. Ärzte müssten dann auswählen, welche Patienten intensivmedizinisch behandelt werden können.
Doch wie konnte sich die Lage überhaupt wieder derart negativ entwickeln? Gab es Versäumnisse? Darüber wurde am Samstag teils heftig gestritten. Die Regierung hatte immer wieder betont, mit allen Mitteln einen Lockdown verhindern zu wollen. Gesundheitsminister Anschober hatte noch vor fast genau einem Monat solche strikten Maßnahmen praktisch ausgeschlossen. »Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen«, sagte er am 11. Oktober dem Sender ORF. Das sei nur vor einem flächendeckenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems möglich. »Davon sind wir Gott sei Dank meilenweit entfernt«, sagte er damals.
Die Oppositionsparteien warfen der Regierung nun Kontrollverlust vor. »Jetzt bekommen alle Österreicher die Rechnung für das Managementversagen der Bundesregierung präsentiert«, sagte etwa die Chefin der Sozialdemokraten, Pamela Rendi-Wagner. Die Regierung habe die Kontaktnachverfolgung vernachlässigt und die Länder und Krankenhäuser bei der Vorbereitung der Intensivstationen alleingelassen.
Ein großer Streitpunkt blieb das Schließen der Schulen. Die Corona-Expertenkommission hatte sich Medien zufolge am Donnerstag dagegen ausgesprochen. Das Bundeskanzleramt war ein Befürworter der Maßnahmen. Die Schulen müssten geöffnet bleiben, betonte dagegen Rendi-Wagner. Die Vorsitzende der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, kündigte an, wegen der Schulschließungen rechtliche Schritte zu prüfen.
»Offene Schulen waren unser Ziel, weil wir vom Wert der Bildung und der sozialen Funktion der Schulen überzeugt sind«, sagte Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) am Samstag. Die Lage sei aber prekär und die Gesundheit habe Priorität. »Die Schulen sind keine Treiber der Infektionen, aber sie sind auch nicht frei von Infektionen.« Schulen und Lehrer seien besser auf die Schließungen vorbereitet als im Frühjahr. (dpa)