REUTLINGEN/TÜBINGEN. Bürgermeister in ganz Baden-Württemberg wenden sich mit einem gemeinsamen Appell an Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Unter dem Motto »Das Leben in den Städten schützen« sprechen sie sich gegen den pauschalen Lockdown für Kunst, Kultur und Gastronomie aus. Auch die Rathaus-Chefs Thomas Keck (Reutlingen), Boris Palmer (Tübingen), Michael, Ulrich Fiedler (Metzingen) und Bulander (Mössingen) haben den Brief unterzeichnet.
»Ich habe mich dem gemeinsamen Appell angeschlossen, weil es mir nicht angemessen erscheint, Gastronomie und Kultur hier in Reutlingen komplett herunterzufahren. Unsere Reutlinger Wirtinnen und Wirte haben ihre Betriebe erfolgreich auf die Infektionslage eingestellt und sämtliche Vorgaben der Coronaverordnung konsequent umgesetzt«, teilt Keck auf GEA-Anfrage mit.
Das gelte auch für die Kulturschaffenden. Der OB wisse aus eigener Anschauung, dass beispielsweise die Württembergische Philharmonie Reutlingen über ein vorbildliches Hygienekonzept verfüge. Aktuelle Untersuchungen zeigten ja auch, dass Gaststätten und Kultureinrichtungen bei der Entwicklung der Neuinfektionen bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. »Als Oberbürgermeister hätte ich mir deshalb gewünscht, dass die von Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen stärker auf die Bedürfnisse der betroffenen Städte und Gemeinden abgestimmt gewesen wären«, so Keck.
Das Schreiben im Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
wir wissen, dass die Lage ernst ist und wir der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus entschieden entgegentreten müssen. Hierbei haben Sie wie in der Vergangenheit unsere volle Unterstützung. Wir können aber nur erfolgreich sein, wenn wir auch die Bürgerinnen und Bürger vom Sinn der Maßnahmen überzeugen können. Das fällt uns bei den gestern in Berlin gefassten Beschlüssen schwer.
Wir fragen uns, nach welchen Kriterien die Bereiche ausgewählt wurden, die nun komplett geschlossen werden sollen. Theater, Oper, Kino, Gastronomie, Hotellerie und Cafés haben gute Hygienekonzepte etabliert und sind als Treiber des Infektionsgeschehens nach unserer Kenntnis von eher geringer Bedeutung. Es ist für uns nicht ersichtlich, dass durch den kompletten Lockdown dieser Bereiche das Tempo der Pandemie ausreichend gebremst werden könnte.
Es scheint, als liege der Auswahl der Schließungsbereiche die Annahme zugrunde, dass diese am ehesten entbehrlich seien. Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomie machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalten, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenhalt und Lebensgeist der Stadtgesellschaften. Wir sehen die Gefahr, dass die Maßnahmen damit das gefährden, was wir zuallererst brauchen, um die Pandemie durchzustehen.
Das gilt umso mehr, als wir zwar lesen, dass die Schließungen bis zum Ende des Monats befristet sein sollen, darauf aber nicht vertrauen können. Im Gegenteil. Es ist zu befürchten, dass die Pandemie durch diese sektoralen Eingriffe so wenig gebremst wird, dass sie bis zum Frühjahr verlängert werden müssen. Das hätte gravierende Strukturbrüche zur Folge. Allein mit Geld kann man Unternehmergeist, Kreativität und Leistungswillen nicht erhalten. Dauerhafte Abwertung und Untätigkeit wird viele zum Aufgeben treiben. Was dadurch zerstört wird, ist auf lange Zeit nicht mehr wiederherzustellen.
Aus diesem Grund bitten wir Sie, die Umsetzung der Beschlüsse im Landesrecht nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Wir sind uns im Klaren, dass Baden-Württemberg keine völlig andere Linie fahren wird. Aber wir hielten es für angemessen, dem Infektionsschutz bei der Definition der Maßnahmen einen höheren Stellenwert zu geben und von gänzlich abstrakten Verboten Abstand zu nehmen. Beispielsweise ist Gastronomie mit Decken oder Heizstrahlern an der frischen Luft nach unserer Meinung völlig unbedenklich. Der Besuch einer Kunstausstellung oder einer Theatervorstellung kann durch weiter verschärfte Besucherzahlgrenzen, Masken und Abstände sicher gestaltet werden.
Wir bitten Sie, diese Differenzierungen nochmals zu erwägen, bevor ein allzu pauschaler Lockdown angeordnet wird. (pm)