TÜBINGEN. Wenn Boris Palmer Klartext redet, endet das nicht selten in hitzigen Diskussionen. So auch in der Talkshow von Markus Lanz im ZDF am späten Dienstagabend. Der Tübinger Oberbürgermeister brachte ins Spiel, dass »die CDU unter einem Ministerpräsidenten Voigt in Thüringen der AfD Koalitionsgespräche anbieten« solle. Das Ziel dabei: die AfD entzaubern. Bei der Landtagswahl am 1. September hatte die AfD die meisten Stimmen erhalten, noch vor der CDU. Palmers Vorschlag einer Zusammenarbeit der beiden Parteien sorgte bei der Journalistin Eva Quadbeck, die zu den Gästen zählte, für großes Entsetzen. »Das ist eine absurde These! Man kann mit Faschisten keine gemeinsame Sache machen.«
Quadbeck, Chefredakteurin beim Redaktionsnetzwerk Deutschland, forderte Palmer auf: »Lesen Sie bitte Geschichtsbücher über die 1920er- und 1930er-Jahre in Deutschland!« Der frühere Grünen-Politiker entgegnete, dass er Geschichte studiert habe. »Es hat auch etwas von einem Totschlagargument, als ob ich den Faschisten jetzt den roten Teppich ausrollen wollte, damit sie die Macht übernehmen.« Er wolle lediglich den »Möglichkeitsraum« einer AfD-Beteiligung an der Regierung in die Diskussion bringen. »Wir können nicht so tun, als wären die alle rechtsextrem.« Wäre die Partei als Ganzes verfassungsfeindlich, sollte sie verboten werden, forderte er. Quadbeck erwiderte, dass man eine Partei nur bundesweit verbieten könne. »So weit ist der Verfassungsschutz noch nicht mit seiner Beobachtung und Einstufung.« Sich zum jetzigen Zeitpunkt mit der AfD zusammenzutun, sei jedoch »sicherlich das Verkehrteste«. Auch auf seiner eigenen Facebook-Seite wurde Palmer für seinen AfD-Vorschlag kritisiert. Er konterte erneut, dass man das »kontrovers diskutieren« sollte.
Palmer kritisiert »Grundfehler« in der Abschiebepolitik
Dass die AfD überhaupt so populär werden konnte, liege laut Palmer vor allem an der Migrationspolitik der vergangenen zehn Jahre. Er kritisierte vor allem einen »Grundfehler«, der lange Zeit begangen worden sei. »Wir haben die Falschen abgeschoben. Nämlich diejenigen, die gearbeitet haben und deswegen auffindbar waren.« Erst seit kurzem gebe es einen Konsens, dass »alle, die sich nicht an die Regeln halten, unser Land verlassen sollen. Wenn wir das schon seit ein paar Jahren so gesagt hätten, wäre die AfD niemals bei 30 Prozent.«
Erst nach den Messerangriffen in Solingen und Mannheim habe ein Umdenken eingesetzt. Die Abschiebungen konzentrierten sich nun auf Schwerstkriminelle. »Jetzt geht das auf einmal. Damit macht man sich unglaubwürdig«, ärgerte sich Palmer. Er habe den Eindruck, dass man den Aufschwung der AfD verhindern wolle. »Es war ein Fehler, die Druckwelle so lange steigen zu lassen.« Vor kurzem habe die SPD ein schärferes Sicherheitspaket angekündigt, sei jedoch jetzt schon wieder von den ausgehandelten Gesetzesverschärfungen abgerückt. Das sei für Palmer »schwer zu verstehen«. Während der Tübinger Oberbürgermeister auch seine ehemalige Partei für fehlende Härte kritisierte, echauffierte er sich über die aktuelle »Bett-Seife-Brot«-Forderung der FDP und betonte: »Das kann man doch nicht sagen! Das finde ich völlig übergriffig.« Das kippe zu sehr in die andere Richtung, »weil man die Probleme zu lange beschwichtigt hat«.
Haushaltsloch in Tübingen
Ein weiteres gravierendes Problem ist laut Palmer: Unter anderem wegen der Ausgaben für Flüchtlinge gebe es in den Haushalten der Kommunen eine Kostenexplosion. In Tübingen fehlten derzeit rund 40 Millionen Euro. »Ist Tübingen nicht eine prosperierende Stadt?«, wunderte sich Moderator Lanz. »Waren wir bis vor zwei Jahren«, entgegnete Palmer, »jetzt sind wir ein Sanierungsfall«.
Um das finanzielle Loch zu stopfen, müsse man in der Universitätsstadt jede zweite Busfahrt streichen, ein Theater und ein Hallenbad schließen und die Grundsteuer für alle verdoppeln. »Sie können sich vorstellen, was dann in der Bevölkerung los wäre.«
Palmer stellte zudem fest, dass in Tübingen die Monatsumsätze vieler Unternehmen eingebrochen sind. »Unsere Wirtschaft schmiert ab.« Deshalb forderte er die Bundesregierung, insbesondere Kanzler Olaf Scholz, auf, sich endlich um das Problem zu kümmern. »Die Rente mit 63 ist nicht finanzierbar«, meinte er. Zudem plädierte er dafür, die Wochenarbeitszeit zu erhöhen. »Anders lässt sich unser Wohlstand nicht mehr aufrechterhalten. Wir brauchen einen Ruck in diesem Land.«