BERLIN. Ist der Geldbeutel für die Bundesbürger wichtiger als ihre Gesundheit? Nach der repräsentativen Umfrage »Die Ängste der Deutschen« sorgen sich die Bundesbürger in der Corona-Pandemie in erster Linie um ihren Wohlstand. Beim Thema Ansteckung bleiben sie dagegen gelassen. Die größte Sorge aber ist politisch: Sie gilt US-Präsident Donald Trump.
Die Umfrage »Die Ängste der Deutschen« wird seit 1992 von der R+V-Versicherung in Auftrag gegeben. Sie lief in diesem Jahr vom 8. Juni bis zum 21. Juli, 2400 Menschen ab 14 Jahren wurden dafür persönlich befragt. Die Studie, die viele Fragen wiederholt und andere je nach Entwicklung neu stellt, gilt Forschern wegen ihres Langzeit-Effekts als kleiner Seismograph der Befindlichkeiten rund um Politik, Wirtschaft, Umwelt, Familie und Gesundheit.
Wer die Deutschen in der Corona-Krise für ein Volk von Angsthasen hält, liegt 2020 daneben. Der Angstindex, also der Durchschnittswert der langjährig abgefragten Sorgen, rangiert mit 37 Punkten sogar auf dem niedrigsten Niveau seit dem Beginn der Befragung vor fast 30 Jahren. Dieses Ergebnis ist ein krasser Gegensatz zum Jahr 2016, als Ängste vor Terrorismus, vor politischem Extremismus, vor Spannungen durch Zuwanderung sowie Sorgen vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung den Index auf 52 Punkte schnellen ließen - den höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre.
»Aus Erfahrung wissen wir, dass der Angstindex besonders hoch ist, wenn die Menschen sich hilflos fühlen und vor scheinbar unlösbaren Problemen stehen«, sagt die Leiterin der Umfrage, Brigitte Römstedt. »Momentan haben wohl viele Menschen das Gefühl, dass sie sich durch das Einhalten der AHA-Regeln vor Corona schützen und dass auch die Regierung so weit alles im Griff hat. Das verhindert offensichtlich eine allgemeine Panik.«
Manfred Schmidt, Politikwissenschaftler an der Universität Heidelberg, analysiert die Ängste-Umfrage seit fast 20 Jahren. Bemerkenswert ist für ihn, wie die innenpolitischen Sorgen in diesem Jahr an Bedeutung verloren haben. Noch nie im neuen Jahrtausend haben die Befragten so viel Vertrauen in Deutschlands Politik gezeigt: 60 Prozent hielten sie nicht für überfordert - für die Bundesrepublik ist das ein Spitzenwert. Für Schmidt spiegelt sich hier eine Wertschätzung für das Corona-Krisenmanagement der Regierung.
Er vermutet aber auch, dass andere Themen wie zum Beispiel Migration zurzeit überlagert werden und der Streit der Parteien darüber hinaus hintangestellt wurde. Der Fokus aufs Materielle wundert ihn dagegen nicht. Das sei ein Reaktionsschema bei Notlagen, sagt er.
Ausgewählte Ergebnisse der Umfrage im Einzelnen:
TOP-ANGST: Zum zweiten Mal nach 2018 ist US-Präsident Trump der Buhmann der Nation. Rund die Hälfte der Interviewten (53 Prozent) stuft seine Politik als ein Problem ein, das die Welt gefährlicher macht. Nach anderen Staatschefs haben die Interviewer allerdings nicht gefragt. Politologe Schmidt wundert das Ergebnis wenig. »Trump sorgt mit seiner Außenpolitik immer wieder für schwere internationale Verwicklungen«, sagt er. Darunter seien handels- und sicherheitspolitische Attacken, auch gegen Deutschland. Dazu komme der Rückzug der USA aus internationalen Kooperationen. Für Forscher gibt es Rahmenbedingungen für die Erzeugung von Angst: zum einen, dass die Medien regelmäßig und mit Nachdruck über ein Thema berichten, und zum anderen, dass die Politik in großem Umfang eingeschaltet ist.
SORGE UM WOHLSTAND: Angst um die Wirtschaft dominiert nach sechs Jahren Pause wieder die ganz großen Sorgen der Deutschen. Die Hälfte der Befragten (51 Prozent) befürchtet steigende Lebenshaltungskosten. Damit ist diese Sorge unter den Top-Ten-Ängsten. Darüber hinaus rechnet knapp jeder zweite Befragte (49 Prozent) mit Kosten für die Steuerzahler durch die neue EU-Schuldenkrise und eine schlechtere Wirtschaftslage. Nur ein Viertel der Interviewten hat bisher jedoch Angst vor eigener Arbeitslosigkeit. Für Wissenschaftler Schmidt spiegelt dieses Ergebnis Realismus: Durch die Corona-Krise erlebe die Bundesrepublik den stärksten Wirtschaftseinbruch ihrer Geschichte, sagt er. Die Gefahr sei noch nicht vorüber. »Sollte es infolge der Corona-Krise in naher Zukunft tatsächlich zu Insolvenzen und vermehrten Entlassungen kommen, wird die Angst im kommenden Jahr vermutlich noch einmal deutlich größer werden«, ergänzt Umfrageleiterin Römstedt. Die Sorge vor einer eigenen schweren Corona-Erkrankung rangiert dagegen mit 32 Prozent weit abgeschlagen auf dem 18. Platz von 20 abgefragten Ängsten. »Nach unseren Erkenntnissen haben die Menschen deutlich mehr Angst davor, dass das Virus ihren Wohlstand bedroht als ihre Gesundheit«, resümiert Römstedt. Nach den Gründen für diese Gelassenheit fragt die Studie nicht. So bleiben allein Vermutungen. »Wir wissen, dass man die Themen Krankheit und Tod gerne weit von sich schiebt«, sagt Römstedt.
MIGRATION: Im Vergleich zu den vergangenen fünf Jahren sind die Sorgen um Zuwanderung stark gesunken. Sie gingen um mehr als zehn Prozentpunkte zurück und liegen damit auf dem niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Dennoch haben weiterhin mehr als 40 Prozent der Befragten Sorge vor Spannungen infolge des Zuzugs von Ausländern und einer Überforderung des Staates durch Flüchtlinge. Das sind Platz sechs und sieben der Top-Ängste. Unter die 40-Prozent-Marke rutschten dagegen die Angst vor politischem Extremismus (37 Prozent) und Terrorismus (35 Prozent).
OST-WEST-SCHERE: In den Jahren 2016 und 2017 schien Deutschland mit Blick auf Ängste der Bundesbürger nach langer Kluft vereint. Es gab kaum Unterschiede. Seitdem entwickelt es sich aber wieder auseinander - vor allem beim Thema Zuwanderung. In Ostdeutschland sind zum Beispiel fast zwei Drittel der Befragten der Ansicht, dass die große Zahl der Geflüchteten die Deutschen und ihre Behörden überfordern, im Westen sind es 39 Prozent. Konflikte durch weitere Zuwanderung fürchten 56 Prozent der Ostdeutschen, im Westen 40 Prozent.
DER KLEINE UNTERSCHIED: Frauen zeigen sich in der Ängste-Umfrage traditionell kritischer und sorgenvoller als Männer. Sie halten Donald Trump für gefährlicher, fürchten steigende Ausgaben für den Lebensunterhalt mehr und haben häufiger Angst vor Pflegebedürftigkeit. Nur in einem Punkt herrscht Einigkeit: Nur jeder zehnte Deutsche hat trotz Corona und Homeoffice Angst davor, dass die Partnerschaft zerbricht. Das ist die rote Laterne aller abgefragten Ängste. (dpa)