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Panne am Verfassungsgericht? Wahlrechtsurteil vorab im Netz

Das ist eine Seltenheit: Am Morgen vor der Urteilsverkündung in Karlsruhe herrscht kaum Spannung. Denn die Entscheidung kursierte Stunden vorher im Internet. Es gibt erste Hinweise auf die Ursache.

Bundesverfassungsgericht urteilt zu Wahlrechtsreform
Hier wurde am Morgen das Urteil verkündet - die Entscheidung war allerdings vorher schon kurzzeitig online zu finden. Foto: Uli Deck/DPA
Hier wurde am Morgen das Urteil verkündet - die Entscheidung war allerdings vorher schon kurzzeitig online zu finden.
Foto: Uli Deck/DPA

Schon am Abend vor der Urteilsverkündung zur jüngsten Wahlrechtsreform konnte man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Internet finden. Das dürfte nach ersten Erkenntnissen eher ein Versehen gewesen sein, kein Hackerangriff oder das Werk eines sogenannten Whistleblowers. »Es gibt derzeit Anhaltspunkte für eine technische Ursache«, sagt ein Gerichtssprecher in Karlsruhe. »Die Einzelheiten werden geklärt.« Später teilt das Gericht mit, der Direktor beim Bundesverfassungsgericht solle die genauen Umstände aufklären und geeignete Maßnahmen ergreifen, die einen solchen Fall in Zukunft verhindern.

Der Vorfall ist sehr ungewöhnlich: Am Montagabend taucht plötzlich ein PDF auf, das aussieht wie ein Urteil des höchsten deutschen Gerichts. Wie DAS Urteil, auf das die Ampel-Koalition und die Opposition, aber auch mehr als 4000 private Klägerinnen und Kläger sowie Pressevertreter und weitere Interessierte warten. Es ist zeitweise auf der Internetseite des Bundesverfassungsgerichts abrufbar. Nur ob es echt ist, bestätigt der Sprecher am Abend nicht und verweist auf die Verkündung. Die ist am Dienstag für 10.00 Uhr angesetzt. Medien berichten aber schon vorher über den Inhalt, Politiker kommentieren ihn.

Das »echte« Urteil hat mehr Seiten

Merkwürdig wirkt das Format, in dem die Entscheidung mutmaßlich wegen einer Panne zu früh veröffentlicht wurde: als PDF. Üblicherweise stellt das Gericht Entscheidungen als Fließtext auf seine Internetseite. Dort - bis zu weiteren Veröffentlichungen sogar auf der Startseite - ist auch das Urteil zur Wahlrechtsreform seit dem Mittag zu finden. Der Link geht los mit den Worten »Das Bundeswahlgesetz 2023 ist überwiegend verfassungsgemäß«. Rechts daneben gibt es die Möglichkeit, das Ganze als PDF herunterzuladen.

Das PDF vom Montagabend, das auch der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, hat 72 Seiten. Die ausgedruckte Fassung, die mit Beginn der Verkündung im Presseraum verteilt wird, hat 75. Die Formatierung ist hier und da etwas anders. Auch fehlen beim PDF Leitsätze aus dem Urteil. Die nun offiziell herunterladbare Version hat - inklusive Leitsätze - 73 Seiten.

Der Vorfall ist so außergewöhnlich, dass auch die Vorsitzende Richterin des Zweiten Senats und Vizegerichtspräsidentin Doris König nicht umhinkommt, ihn zu Beginn der Sitzung zu kommentieren: »Ich nehme an, mit Spannung wird jetzt erwartet, dass wir Stellung nehmen«, sagt sie, nachdem sie die grundsätzlichen Entscheidungen des Gerichts stichpunktartig verkündet hat. Auch sie verweist auf einen möglichen technischen Fehler. »Das Gericht ist gerade dabei zu prüfen, wie es dazu kommen konnte.«

Danach fährt König mit dem erläuternden Einführungsstatement fort, bevor das Urteil in Auszügen verlesen wird. »Weil die, die das Urteil noch nicht gelesen haben, wahrscheinlich aus dem Tenor alleine nicht wirklich schlau geworden sind«, sagt die Richterin.

Gysi nicht mehr ganz so aufgeregt

Die Reaktionen sind milde, von Häme und Spott kann im Gericht nicht die Rede sein. Eher mit einem Augenzwinkern sagt Linken-Urgestein Gregor Gysi am Morgen vor der Verkündung: »Ich war ziemlich aufgeregt hinsichtlich des Ergebnisses des Verfahrens. Durch ein kleines Versehen ist meine Aufregung etwas gesenkt worden, weil man die Entscheidung schon ein bisschen ahnt, sag' ich mal.«

Offenbar gravierender findet die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU), die Tatsache, dass das Urteil Stunden vor der Verkündung für kurze Zeit im Internet zu finden war. Dies sei sehr bedenklich, erklärt sie, »gerade in der jetzigen Zeit, in der wir so intensiv für Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen werben«.

© dpa-infocom, dpa:240730-930-188819/3