BERLIN. Wenn Hanna Christiansen den Umgang der Politik mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie beurteilen soll, kommt der Psychologin das Wort »Katastrophe« in den Sinn.
Und damit meint sie vor allem: die Kommunikation. »Seit einem Jahr ist das ein Hin und Her«, sagt die Leiterin der Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Dabei sei es in dieser schwierigen Situation besonders wichtig, vernünftig und eindeutig zu kommunizieren.
»Wenn gerade wegen der Infektionslage kein Unterricht vor Ort möglich ist, dann muss man vermitteln: Das geht leider gerade nicht, aber wir haben gute Konzepte und wir arbeiten daran, den digitalen Unterricht besser zu machen«, sagt Christiansen. Dafür wiederum müsse man die Schülerinnen und Schüler viel mehr einbinden. »Sie wissen sehr gut, was sie brauchen und wie es funktionieren kann.«
Kinder und Jugendliche seien von der Pandemie sehr betroffen - von mangelnden Perspektiven, aber auch von schlechter Kommunikation und fehlender Wertschätzung seitens der Politik. »Warum gibt es keine Thinktanks mit Kindern und Jugendlichen? Sie wissen am besten, was gerade die drängendsten Fragen für sie sind«, sagt die Psychologin. Solche Gruppen seien schlau und kreativ, »die kommen auf Ideen, auf die Erwachsene niemals kommen«.
Sie fordert, junge Menschen und deren Bedürfnisse ernster zu nehmen und sie mehr einzubinden. Ihnen das Gefühl zu geben, selbstwirksam zu sein. »Das sind Menschen, die gerade anfangen, sich eine politische Meinung zu bilden. Wenn ich mich nicht ernst genommen fühle und zudem nicht weiß, woran ich bin, kann das sehr viel Vertrauen zerstören.«
Wichtig scheint das gerade vor dem Hintergrund, dass mit der zunehmend an Brisanz gewinnenden dritten Welle Besserung nicht so rasch in Sicht ist. Neben Ansteckungen in Privathaushalten und im beruflichen Umfeld sieht das Robert Koch-Institut die Entwicklung verstärkt verursacht durch Häufungen in Kitas und Schulen, wie aus dem Lagebericht vom Dienstag hervorgeht. Die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner steigt demnach vor allem bei den Menschen bis 44 Jahren. »Der stärkste Anstieg ist bei Kindern zwischen null bis 14 Jahren zu beobachten, wo sich die 7-Tage-Inzidenzen in den letzten vier Wochen verdoppelt haben.«
Wie lange es funktioniert, die derzeit zu großen Teilen geöffneten Schulen und Kitas offen zu lassen, weiß darum niemand so recht. Die Infektionszahlen in der Bevölkerung steigen - und die meisten Schulen und Kitas sind von durchgeimpftem Personal und regelmäßigen Tests weit entfernt. »Das ist ein Experiment, bei dem keiner den Ausgang kennt«, sagt Folke Brinkmann, die derzeitige Leiterin der Pädiatrischen Pneumologie der Uni-Kinderklinik Bochum.
Die Wissenschaftlerin hätte sich für die Öffnungen ein niedrigeres Start-Level bei den Infektionszahlen gewünscht. Es ergebe zudem keinen Sinn, einmal die Woche zu testen. Das sei »Augenwischerei«. »Man braucht gut geimpftes Personal plus Hygieneregeln. Wenn man dann jeden zweiten Tag zusätzlich testet, hätte man eine etwas größere Sicherheit«, erklärt Brinkmann. Bei den Ausbrüchen, die sie zuletzt in Kitas und Schulen betrachtet hat, gingen die Infektionen stets von Erwachsenen aus. Die Infektionsraten in den Gruppen sei hoch. Hinzu kommt: »Die Variante B.1.1.7, die sich gerade in Deutschland verbreitet, ist für alle infektiöser.«
Deshalb wäre aus rein epidemiologischer Sicht das nötige Vorgehen völlig klar, so Timo Ulrichs: alles wieder zumachen. »Aber die Schulen sind wichtig«, sagt der Epidemiologe von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Wenigstens bis Ostern Wechselunterricht und im Zweifel alles andere schließen, um das zu ermöglichen - das hält er für die beste Lösung. In den Schulen müssten Hygienekonzepte konsequent eingehalten, Lehrerinnen und Lehrer geimpft und alle engmaschig getestet werden. Zudem müsse auf Infektionen schnell mit Quarantäne für die betroffene Gruppe reagiert werden.
»Die Lage ist in Deutschland gerade sehr heterogen. Wir haben einige Bundesländer mit vielen Fällen und sehr hohen Zunahmen. Dort muss man Lockerungen wieder zurücknehmen«, so Ulrichs. In anderen hingegen sei die Situation deutlich besser. Was aus seiner Sicht extrem kontraproduktiv wäre: über Ostern zu reisen. »Wir haben eine viel labilere Lage als im Sommer.« So könnten auch innerhalb Deutschlands Infektionen aus Regionen mit hohen Zahlen in bislang nicht stark betroffene geschleppt werden. (dpa)