Der Europa-Gipfel in Granada ist von einem der verheerendsten Angriffe im russischen Krieg gegen die Ukraine überschattet worden. Im ostukrainischen Gebiet Charkiw starben Behördenangaben zufolge mindestens 51 Menschen durch russischen Beschuss. Unweit der Stadt Kupjansk seien ein Café und ein Lebensmittelgeschäft getroffen worden, teilte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft mit. Sie veröffentlichte auch Fotos und ein Video, die Trümmerberge und reglos am Boden liegende Menschen zeigen.
Derweil sicherte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) der Ukraine ein weiteres Flugabwehrsystem zu, nachdem er zuvor die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern aus Sorge um eine Eskalation des Krieges abgelehnt hatte. Scholz machte die Ankündigung nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Rande des Gipfels in Granada.
Selenskyj hatte zum Auftakt des Spitzentreffens einmal mehr einen eindringlichen Appell an die europäischen Partner gerichtet und vor einem Nachlassen bei der Unterstützung für den Abwehrkrieg gegen Russland gewarnt. Wenn Russland jetzt eine Pause bekomme, dann werde es bereits 2028 sein von der Ukraine zerstörtes militärisches Potenzial wieder hergestellt haben, sagte er bei dem Spitzentreffen mit fast 50 anderen Staats- und Regierungschefs.
Selenskyj warnt vor Gefahr für Balten-Staaten
Besondere Gefahr sieht der Ukrainer demnach vor allem für die baltischen Staaten, die ebenfalls einst Teil der Sowjetunion waren und jetzt der Nato und EU angehören. »Russland versucht, die Lage einzufrieren und sich anzupassen. Es lernt aus seinen Fehlern und bereitet sich darauf vor, sich weiter vorwärts zu bewegen«, sagte Selenskyj und berief sich dabei auf Angaben von Geheimdiensten. Der gefährlichste Feind sei jener, der seine Schlussfolgerungen gezogen habe, »um sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten«.
Konkret ging Selenskyj in seiner Rede auch auf das mögliche Szenario einer wegbrechenden US-Unterstützung wegen des Haushaltsstreits zwischen den beiden großen US-Parteien ein. »Amerika hat uns geholfen - hat Europa geholfen zu überleben«, sagte er. Nun müsse man in Europa bereit sein und dürfe sich nicht verstecken. Politische Stürme wie die in den USA seien von Russland und anderen Gegnern gewollt.
Spannungen unter den Gipfelteilnehmern
Zu dem dritten Gipfeltreffen der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) waren am Donnerstag Staats- und Regierungschefs aus rund 50 Ländern in die südspanische Stadt Granada gekommen. In dem von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron initiierten Format versuchen die EU-Staaten seit mittlerweile rund einem Jahr, die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern zu verbessern. Weitreichende Erfolge gab es allerdings bislang nicht zu verbuchen.
Grund sind insbesondere anhaltende Spannungen und Konflikte unter den Mitgliedern - auch mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine. In der EU blockiert das russlandfreundliche Ungarn beispielsweise die Finanzierung von Waffenlieferungen für die Ukraine. Zudem könnte es nach der Wahl in der Slowakei vom vergangenen Sonntag dazu kommen, dass Sieger Robert Fico einen ähnlichen Kurs einschlägt wie Viktor Orban in Ungarn. Fico hatte vor der Wahl angekündigt, er wolle die bei der Bevölkerung unbeliebte Waffenhilfe beenden und der Ukraine nur mehr mit zivilen Gütern helfen, wenn er an die Macht käme.
Diskussionen um weitere EU-Ukraine-Hilfen
Fraglich ist deswegen auch, ob Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Chefdiplomat Josep Borrell verwirklicht werden können, für die Ukraine im Zeitraum bis Ende 2027 zusätzliche 70 Milliarden Euro bereitzustellen. 20 Milliarden Euro davon sollen für die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstungen dienen, die anderen 50 Milliarden Euro vor allem zur Stützung des ukrainischen Staatshaushalts und den Wiederaufbau. Borrell warnte am Donnerstag, dass selbst dieses Geld einen Wegfall von US-Finanzierung nicht kompensieren dürfte. »Europa kann die USA ganz sicher nicht ersetzen«, antwortete er am Donnerstag auf die Frage eines Journalisten.
Aserbaidschan verweigert Gespräche in Granada
Für Ernüchterung sorgten in Granada zudem die zuletzt wieder eskalierten Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo sowie zwischen Armenien und Aserbaidschan. Zu einem von der EU erhofften Vermittlungsgespräch mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan kam es in Granada nicht, weil Aliyev wegen der »antiaserbaidschanischen Stimmung« der übrigen Gipfelteilnehmer nicht anreisen wollte.
Aliyev steht in der Kritik, weil er Ende September Berg-Karabach erobern ließ. Gut 100.000 Einwohner der mehrheitlich armenischstämmigen Bevölkerung sind seither ins Mutterland geflohen.
Kosovo fordert Sanktionen gegen Serbien
Das Kosovo knüpfte unterdessen weitere Gespräche mit Serbien an westliche Strafmaßnahmen. Es gebe keinen Grund, sich zu treffen, bevor Sanktionen gegen Serbiens Präsident Aleksander Vucic verhängt worden seien, sagte Präsidentin Vjosa Osmani am Rande des Gipfels. »Zuerst die Sanktionen, und dann können wir über den Rest reden«, betonte Osmani.
Im Konflikt mit dem Kosovo hatte Belgrad zuletzt serbische Truppen rund um das Kosovo aufmarschieren lassen. Zuvor hatte es bereits einen Überfall serbischer Paramilitärs auf kosovarische Polizisten gegeben. Serbiens ehemalige Provinz Kosovo hatte sich 2008 nach einem blutigen Krieg für unabhängig erklärt. Serbien erkennt dies bis heute nicht an.
Deutschland liefert weiteres Patriot-System
Zu der Zusage für das Flugabwehrsystem erklärte Scholz: »Das ist das, was jetzt am allermeisten notwendig ist.« Man müsse damit rechnen, dass Russland im Winter erneut versuchen werde, mit Raketen- und Drohnenangriffen Infrastruktur und Städte in der Ukraine zu bedrohen. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass Scholz trotz eindringlicher Bitten der Ukraine vorerst keine Taurus-Marschflugkörper in das Kriegsgebiet liefern will.
Scholz wird auch an diesem Freitag noch in Granada sein. Die derzeitige spanische EU-Ratspräsidentschaft hat im Anschluss an den Europa-Gipfel noch zu einem informellen EU-Gipfel eingeladen. Bei ihm soll es unter anderen um den Kampf gegen unerwünschte Migration gehen. Zudem steht die Frage im Raum, wie sich die EU auf die anvisierte Aufnahme weiterer Länder wie der Ukraine vorbereiten muss. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte jüngst das Ziel ausgegeben, dass die EU im Jahr 2030 für eine Erweiterung notwendige Reformen abgeschlossen haben sollte.
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