BERLIN. Angesichts immer weiter steigender Corona-Zahlen in Deutschland rücken Auffrischungsimpfungen als Schutz für den Winter zusehends in den Blick. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief am Donnerstag zu einer solchen Verstärkung (»Booster«) länger zurückliegender Impfungen auf - zumal viele bisher Nicht-Geimpfte anscheinend kaum noch dafür zu gewinnen seien. Laut einer Umfrage im Auftrag des Ministeriums wollen sich fast neun von zehn Nicht-Geimpften auch in den kommenden acht Wochen eher nicht impfen lassen. Kliniken warnten vor weiter zunehmenden Belastungen.
Mit erstmals mehr als 100.000 Auffrischungsimpfungen wurde jetzt ein Tagesrekord erzielt, wie Spahn erläuterte. Laut Robert Koch-Institut (RKI) gab es am Mittwoch bundesweit 102.400 davon - sowie daneben 43.700 Erstimpfungen und 77.800 Zweitimpfungen. Insgesamt haben nun gut 1,8 Millionen Menschen eine Impf-Verstärkung erhalten. Eine solche Auffrischung mindestens sechs Monate nach einer vollständigen Impfung wird unter anderem älteren Menschen, Corona-Risikogruppen, aber auch Geimpften mit Astrazeneca und Johnson & Johnson angeboten.
Die Verstärker-Spritzen
Spahn ließ sich am Donnerstag selbst eine Auffrischungsimpfung geben und warb dafür, dass viele andere dies auch tun. »Wir sollten uns in einen sicheren Winter «boostern»«, sagte er nach Ministeriumsangaben bei einer deutsch-israelischen Fachkonferenz in Berlin. Dabei gelte es, bei den Auffrischungen dem Beispiel Israels zu folgen - insbesondere, da viele derjenigen, die bis jetzt nicht geimpft seien, nicht mehr überzeugt werden dürften. Umso wichtiger sei es, dass alle anderen geschützt blieben. Israel hatte Ende Juli als erstes Land weltweit Dritt-Impfungen gestartet.
Die Bedingungen
Hierzulande laufen Auffrischungen in größerem Stil seit September. Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern hatten beschlossen, dass sie Menschen ab 60 Jahre nach ärztlicher Beratung angeboten werden können. Genesene, die eine Impfung mit Astrazeneca oder Johnson & Johnson bekommen haben, können sich eine Auffrischung mit Biontech oder Moderna geben lassen - so machte es nun auch Spahn.
Die Ständige Impfkommission empfiehlt Auffrischungen vorerst ab 70, zudem unter anderem für Pflegekräfte und medizinisches Personal mit Patientenkontakt sowie für Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Die Impfverordnung sieht die Möglichkeit für Auffrischungsimpfungen grundsätzlich für alle vor, für die es zugelassene Impfstoffe gibt.
Die Nicht-Geimpften
Auch zehn Monate nach dem Impfstart haben sich Millionen Menschen noch nicht beteiligt. In der Umfrage im Auftrag des Ministeriums zu Ungeimpften gaben 65 Prozent an, sich auch in den kommenden acht Wochen »auf keinen Fall« impfen zu lassen - 23 Prozent sagten »eher nein«. Nur 5 Prozent wollen es »auf jeden Fall« oder »eher« tun, 7 Prozent äußerten sich unentschlossen. Als Gründe, warum sie sich nicht impfen ließen, sagten 34 Prozent, sie hielten die Impfstoffe für nicht ausreichend erprobt. Angst vor Nebenwirkungen nannten 18 Prozent. Das Institut Forsa befragte vom 29. September bis 10. Oktober 3048 Menschen ab 14 Jahre, die bisher keine Impfung hatten. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete zuerst darüber.
Der Impf-Stand
Insgesamt sind nach Meldedaten von Donnerstag nun mindestens 55,3 Millionen Menschen oder 66,5 Prozent der Bevölkerung vollständig mit der meist nötigen zweiten Spritze geimpft. Zumindest eine erste Impfung bekommen haben mindestens 57,6 Millionen Menschen oder 69,3 Prozent aller Einwohner. Das RKI geht allerdings davon aus, dass unter Erwachsenen schon etwas mehr Menschen geimpft sind, als die Meldedaten zeigen. Regionale Unterschiede sind groß: In Bremen sind 77,9 Prozent der Einwohner vollständig geimpft. Am niedrigsten sind diese Impfquoten in Sachsen (56,5 Prozent), Brandenburg (60,3), Thüringen (60,4), Sachsen-Anhalt (62,9) und Bayern (64,3 Prozent).
Die Lage
Die Corona-Ausbreitung beschleunigt sich weiter. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen stieg laut RKI auf 130,2 - nach 118 am Vortag und 85,6 vor einer Woche. Gemeldet wurden nun 28 037 neue Fälle binnen eines Tages, nur etwas weniger als zum Pandemie-Höhepunkt rund um Weihnachten. Wie viele Menschen mit Corona in Kliniken müssen, unterscheidet sich regional stark. So waren es nach RKI-Zahlen je 100.000 Einwohner in Thüringen mehr als zehn Mal so viele wie in Hamburg.
Der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sprach im Redaktionsnetzwerk Deutschland von einer »kritischen Situation«. Wenn die Entwicklung anhalte, gebe es in zwei Wochen 3000 Patienten auf Intensivstationen.
Die Corona-Bekämpfung
Vor allem im Südosten Deutschland wird die Lage gerade kritischer. In Sachsen, Thüringen und Bayern durchbrach die Sieben-Tage-Inzidenz laut RKI inzwischen die 200-er Marke. Für Bayern kündigte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Donnerstag an, dass Schulkinder nach den Herbstferien voraussichtlich auch im Unterricht wieder Masken tragen müssen. Es werde keinen generellen Lockdown geben - zumal die meisten geimpft seien. Für Regionen mit sehr hohen Corona-Zahlen stellte er aber schärfere Zugangsregelungen zu bestimmten Bereichen in Aussicht.
In Nordrhein-Westfalen soll die Maskenpflicht am Sitzplatz im Klassenraum dagegen zum 2. November wegfallen - die Sieben-Tage-Inzidenz dort liegt laut RKI bei 91,7. (dpa)