BERLIN. Die Bundeswehr-Denkfabrik GIDS erwartet in Folge der Corona-Pandemie weitreichende Konsequenzen für die Sicherheitspolitik und einen Wiederaufbau strategischer Reserven.
Ungeachtet günstiger wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen in Deutschland decke die Krise immer deutlicher »das Fehlen substantieller, eigentlich gesetzlich vorgeschriebener Ressourcen auf der Ebene der Kommunen und der Länder sowie den Mangel an strategischen Reserven bei Personal, Material und Infrastruktur beim Bund auf«, schreibt das zur Führungsakademie der Bundeswehr gehörende Hamburger Institut in einem Papier.
»Seit Generationen haben sich die Menschen nicht mehr so verwundbar gefühlt«, schrieben die Autoren. Engpässe bei lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten und Schutzausrüstung zeigten, wie abhängig Deutschland von globalen Lieferketten sei »und dies schon bei Produkten, die für eine weltweit bewunderte Industrienation kein Thema sein sollten«. »Um strategische Autonomie zurückzugewinnen, muss in Zukunft mehr auf die Diversität der Zulieferer, auf Vorratshaltung und die Vermeidung von Redundanzen geachtet werden. Die Bewirtschaftung bestimmter Ressourcen, deren Bedeutung oft erst im Verlauf einer Krise deutlich wird, muss frühzeitiger erkannt und zentral gesteuert werden.«
Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht verfüge auch die Bundeswehr über eine nur noch sehr geringe strategische Personaltiefe, heißt es. Das gelte auch für zivile Hilfsorganisationen, die Jahrzehnte von den Zivildienstleistenden profitiert hätten. Zudem seien zahlreiche militärische Liegenschaften aufgelöst worden, die man nun gut hätte gebrauchen können. »Die Fixkosten zur Aufrechterhaltung einer strategischen Reserve, sei es bei Personal oder Material, könnten am Ende weit geringer ausfallen als die unmittelbaren Kosten und vor allem die daraus resultierenden Folgekosten, die in einer Krise entstehen. Hier muss Deutschland dringend nachbessern«, wird geraten.
Zur Aufarbeitung der Krise, »das lässt sich schon jetzt sagen, gehört deshalb eine schonungslose Untersuchung der Frage, warum die Welt offensichtlich so blind in die Katastrophe gerutscht ist«. Vielleicht sei das Desaster auch »billigend in Kauf genommen worden«.
Erwartet werden Verteilungskämpfe um staatliche Ressourcen, bei denen Bürger und Organisationen Ansprüche geltend machen: »Da der Begriff «Sicherheit» für die meisten Menschen jetzt und wohl auch in absehbarer Zukunft fast ausschließlich mit gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit in Verbindung gebracht werden dürfte, werden alle Aspekte der militärischen Sicherheit Deutschlands und Europas deutlich in den Hintergrund treten - und das wäre fatal.«
Erhebliche Erwartungen könne es aus der EU geben, besonders aus den »in den Abgrund blickenden Mitgliedsstaaten Italien und Spanien«. »Wenn Deutschland in der zweiten Jahreshälfte den Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird Covid-19 vermutlich weiterhin das bestimmende Thema sein - und die Erwartungen, insbesondere an Deutschland, dürften immens sein.«
Die Autoren der Denkfabrik erwarten, dass es angesichts der Corona-Krise in der internationalen Politik teils Entspannungssignale geben könnte. Ein Beispiel: »Vermutlich hofft der Kreml auch, das angespannte Verhältnis zur Nato zu entkrampfen, vielleicht sogar eine Brücke zu bauen, die ein Lockern der Sanktionen einleiten könnte.« Teils wirke die Corona-Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. So könne das Gewaltpotential vor allem dort wachsen, wo es Flüchtlinge in großer Zahl gebe. Auch auf autoritär verfasste Staaten wirke das Corona-Virus wie ein »toxischer Beschleuniger«.
Das Institut nennt sieben Thesen und Handlungsempfehlungen: So eröffne die Corona-Pandemie vermutlich Chancen für die Außen- und Sicherheitspolitik, »weil sich Handlungsräume zwischen den Akteuren ergeben, die vorher undenkbar waren«. Dem Thema des weltweiten Gesundheitsschutzes und der Frühwarnsysteme müsse generell mehr strategische Beachtung geschenkt werden. »Wir brauchen eine ehrliche Auseinandersetzung über Deutschlands strategische Reserven«, schreiben die Autoren weiter. Auch das politisch mehrfach beerdigte Thema eines verpflichtenden Dienstjahres gehöre wieder auf die Tagesordnung. Gewarnt wird zudem, die Folgen der Pandemie für Elendsregionen der Welt zu unterschätzen. (dpa)