LONDON. Das angekündigte Ende aller Corona-Vorschriften in England hat einen Sturm der Entrüstung gegen den britischen Premierminister Boris Johnson ausgelöst.
Ärzte, Gewerkschaften, Bürgermeister und Opposition kritisierten vor allem die Entscheidung, die Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aufzuheben. Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen »mit Vollgas« durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul. »Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten.« Wirtschaftsvertreter reagierten hingegen erfreut.
Am Vortag hatte Premierminister Boris Johnson bestätigt, dass die verbliebenen Corona-Maßnahmen in England am 19. Juli aufgehoben werden sollen. Dazu zählen Abstandsregeln und Maskenpflicht. Nachtclubs und Discos dürfen wieder öffnen, für Veranstaltungen gibt es keine Zuschauerbegrenzungen mehr. Eine verbindliche Entscheidung soll am kommenden Montag (12. Juli) fallen.
Wissenschaftlerin: »Massives Experiment«
Das Land befinde sich in unbekanntem Territorium, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Devi Sridhar bei Sky News. Es handle sich um ein »massives Experiment«. Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne »rücksichtslos«.
Der Bürgermeister der Metropolregion Liverpool, Steve Rotherham, wies auf eine Yougov-Umfrage hin, laut der 71 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Maskenpflicht sind. Londons Bürgermeister Sadiq Khan kündigte an, das Maskentragen in U-Bahnen, Bussen und Zügen mit Verkehrsunternehmen und der Regierung zu besprechen. »Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich«, twitterte Khan.
Gesundheitsminister Sajid Javid verteidigte hingegen die Pläne. Im Radiosender BBC 4 räumte Javid zwar ein, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erhöhen werde. »Wenn wir lockern und in den Sommer starten, erwarten wir einen deutlichen Anstieg, die Zahl der Fälle könnte auf bis zu 100.000 (täglich) steigen«, sagte der Minister.
In Großbritannien ist die Zahl der Corona-Infektionen zuletzt wieder in die Höhe geschnellt: Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 100.000 Menschen binnen einer Woche, wurde zuletzt mit 229,9 angegeben (Stand: 30. Juni). Grund ist die rasche Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante.
Impfstoffe als »Schutzwall«
Javid betonte aber, der Einsatz von Impfstoffen habe die Verbindung von Infektionen und Krankenhauseinweisungen sowie Todesfällen geschwächt. »Die Impfstoffe wirken, sie sind unser Schutzwall«, sagte Javid bei Sky News. »Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.«
Der Minister sagte, es sei an der Zeit, sich verstärkt um andere Gesundheitsprobleme zu kümmern. Millionen Menschen hätten sich während der Pandemie mit ihren Sorgen nicht an den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) gewandt. Dies müsse ebenfalls eine Priorität sein. »Es kann nicht nur immer um Corona gehen«, sagte Javid.
Der Branchenverband UK Hospitality, der Gaststätten und Tourismusbetriebe vertritt, lobte die Ankündigung als Meilenstein. Der Kneipenverband British Beer and Pub Association wies darauf hin, dass endlich mehr als 2000 Pubs öffnen könnten, die wegen strenger Abstandsregeln derzeit immer noch geschlossen haben. Auch die Veranstaltungsbranche zeigte sich begeistert. Der Industrieverband CBI begrüßte die Pläne ebenfalls, mahnte aber, Unternehmen müssten die Sicherheit ihrer Angestellten an erste Stelle setzen.
Unklarheiten bei Schulen und beim Reisen
Offen ist noch, wie sich die Pläne auf Schulen und Reisen auswirken. Erwartet wird, dass ebenfalls vom 19. Juli an nur noch Schüler in Selbstisolation müssen, die positiv getestet werden. Ihre Klassenkameraden können dennoch in die Schulen gehen - bisher müssen sie ebenfalls in häusliche Quarantäne.
Geplant ist zudem, dass vollständig Geimpfte nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Deutschland, die auf einer »gelben Liste« stehen, nach Ankunft nicht mehr in Selbstisolation müssen. (dpa)