HELSINKI/WIEN. Schweißgebadet die Augen öffnen, durchatmen, erleichtert feststellen: alles nur ein Traum. Solche Momente könnten Menschen in den vergangenen Monaten häufiger als sonst erlebt haben. Schlaf- und Traumforscher sehen Belege dafür, dass Corona auch unsere Nächte stark beeinflusst.
Was für Träume die Pandemie auf ihrem Höhepunkt verursachte, beschäftigte etwa Wissenschaftler aus Finnland, die ihre Ergebnisse in dieser Woche veröffentlichten.
»Träumen ist normalerweise eine sehr private Sache. Aber wenn sich die Umwelt so drastisch ändert, scheinen viele Menschen ähnliche Assoziationen damit in ihren Träumen zu haben«, sagte die leitende Autorin und Psychologin Anu-Katriina Pesonen der Deutschen Presse-Agentur. Für ihre Studie beschrieben 811 Freiwillige, die sich Ende April auf einen Zeitungsartikel hin meldeten, dem Forscherteam von der Universität Helsinki den Inhalt ihrer Träume.
Verlorene Pässe, geschlossene Grenzen oder überfüllte Orte kamen dort immer wieder vor - genauso wie Händeschütteln oder Umarmungen, die wegen der Abstandsregeln als Fehlverhalten empfunden wurden. Auch der Tod spielte immer wieder eine Rolle. Die Schlagworte aus den Traumberichten ließen die Forscher von einem Algorithmus zu Themengruppen sortieren. In einem Drittel dieser Themengruppen erkannten die Forscher Alpträume mit direktem Pandemie-Bezug.
Über 4000 Finnen beschrieben für die in der Fachzeitschrift »Frontiers in Psychology« veröffentlichte Studie außerdem, wie sie während des Lockdowns schliefen. Mehr als ein Viertel gab an, häufiger Alpträume gehabt zu haben als zuvor. Rund ein Drittel wachte häufiger auf. Andererseits schlief mehr als die Hälfte insgesamt länger, etwa weil viele von zuhause aus arbeiteten. Wenig überraschend litten insbesondere jene Menschen stärker unter Alpträumen, die angaben, ihr Stresslevel habe sich während der Pandemie erhöht.
Verallgemeinern kann man die Zahlen der Studie aus Sicht anderer Experten allerdings nicht. »Die Ergebnisse muss man mit Vorsicht bewerten. Es gibt auf jeden Fall Leute, die Covid-Träume haben, aber wie viele das sind, kann man aufgrund dieser Studie nicht sagen«, sagt Michael Schredl, Schlafforscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Dass die Teilnehmer sich auf einen Zeitungsartikel hin selbst meldeten, verzerre die Zahlen: »Es haben sich wahrscheinlich die Leute gemeldet, die auch Probleme haben.«
Für aussagekräftiger hält Schredl die Daten seiner eigenen Traum-Studie, die er mit einem US-Kollegen im September im Fachjournal »Dreaming« veröffentlichte. Anfang Mai ließen sie rund 3000 US-Amerikaner von einem Meinungsforschungsinstitut befragen. Knapp 30 Prozent gaben an, sich in der Corona-Krise verstärkt an ihre Träume zu erinnern. 15 Prozent erlebten schlechtere Träume - 8 Prozent aber bessere. Je mehr die Befragten von der Pandemie betroffen waren, desto unangenehmer wurden auch ihre Träume.
Rund 250 Befragte berichteten von konkreten Corona-Alpträumen, am häufigsten ging es dabei um Maßnahmen und die Angst vor der Krankheit selbst. »Wir konnten zu einem sozialen Ereignis gehen, aber ich war die ganze Zeit besorgt, dass wir Social Distancing betreiben sollten«, beschrieb etwa ein Teilnehmer. Oder: »Ich wache auf und erinnere mich, dass jemand, den ich liebe, am Coronavirus gestorben ist und fühle mich schuldig, dass es nicht mich getroffen hat.«
Die Wiener Psychologin und Traumforscherin Brigitte Holzinger überrascht das nicht. »Wir passen uns an diese Krise an, so wie Träume uns auch allgemein helfen, mit Krisen besser fertig zu werden«, erklärt sie. Auch ihre eigene, noch unveröffentlichte Forschung zu Corona-Träumen weist in die Richtung. Die Zahlen der finnischen Studie zu Alpträumen kämen ihr »sehr, sehr hoch« vor. »Aber tendenziell würde man das erwarten und das würde sich auch mit unseren Beobachtungen decken.«
Dass ein Drittel der befragten Finnen angab, sie hätten besser geschlafen, überrascht die Leiterin des Instituts für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien hingegen nicht. »Das deckt sich mit meinen Beobachtungen«, sagte Holzinger. Ihre These: Viele Leute litten im Alltag derart unter Schlafmangel, dass sie erst im Lockdown trotz aller neuen Belastungen zur Ruhe gekommen seien. Dafür spricht aus ihrer Sicht auch, dass viele Menschen berichten, sich mehr an ihre Träume zu erinnern.
Die Corona-Träume sind jedenfalls nichts Außergewöhnliches, sondern passen zu den Erklärungen in der Traumforschung. Auf der einen Seite verarbeitet die Träumerin oder der Träumer Erfahrungen des Tages. Eine andere Erklärung stammt aus der Evolutionspsychologie: »Wenn wir von Bedrohungen träumen, können wir diese dadurch am nächsten Tag besser bewältigen und haben einen Vorteil dadurch«, sagt Holzinger. »Wir lernen quasi ununterbrochen im Traum, das muss nicht immer nur Bedrohliches sein. Wir träumen auch mehr, wenn wir im Urlaub sind, oder erinnern uns zumindest besser daran.«
»Der Traum neigt dazu, manchmal vor allem Ängste in einer etwas übersteigerten, dramatisierten Form darzustellen und deshalb sind die Träume häufig emotional intensiver als die Ängste, die man im Wachzustand erlebt«, erklärt Traumforscher Schredl. Wer im Traum von einem Monster flüchte, träume eigentlich von der Angst - die sich auch auf Stress im Büro zurückführen lasse. »Das ist bei Covid nicht anders. Das Besondere ist halt bei Covid, dass hier sehr viele Menschen von den gleichen Stressoren betroffen sind.« (dpa)