BERLIN. Wegen der befürchteten sehr raschen Ausbreitung der Omikron-Variante auch in Deutschland mahnen Experten schnelles, vorbeugendes Handeln der Politik und umsichtiges Verhalten jedes Einzelnen an.
Sie seien sehr besorgt und setzten wenig Hoffnung darauf, dass sich Berichte über milde Verläufe bestätigen, sagten mehrere Wissenschaftler am Mittwoch in einer Videoschalte. Eine alleinige Konzentration auf die Booster-Kampagne reiche nicht, sagte die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek. Der Berliner Modellierer Dirk Brockmann forderte einen Notfallplan von der Politik, wie man auf verschiedene Szenarien reagieren könnte.
Nicht von Hoffnungen leiten lassen
Trotz offener Fragen zu möglichen Omikron-Auswirkungen in Deutschland warnten die Forscher, dass man sich nicht von Hoffnungen leiten lassen dürfe. Die Omikron-Ausbreitung noch zu stoppen werteten Ciesek und Brockmann als ausgeschlossen, sie könne nur verlangsamt werden. Brockmann (HU Berlin/Robert Koch-Institut) zog einen Vergleich mit dem Lockdown vom Frühjahr 2020, mit dem die erste Welle gebrochen worden sei. Damals sei das Virus aber nicht so übertragbar gewesen wie nun Omikron. »Ich bin da relativ pessimistisch, dass man mit Maßnahmen das Ding so brechen kann wie in der ersten Welle.« Es gelte aber, alles zu tun, um den Schaden möglichst klein zu halten.
Zu erwarten sei laut Modellierungsstudien für Deutschland eine Entwicklung wie in Großbritannien und Dänemark, wo die Fallzahlen in die Höhe schossen. Auf die Frage, ob ein Lockdown zu erwägen sei, sagte Brockmann: »Man muss über alles nachdenken, aber nicht so lange.« Er fürchte, dass es zu einer Kaskade unerwarteter Ereignisse kommen könnte. Bei sehr vielen Fällen gleichzeitig drohe zum Beispiel auch Krankenhauspersonal auszufallen.
Möglichst alle Tools nutzen
»Ich hoffe, dass die Politik Antworten findet auf den Worst Case«, etwa für den Fall weiter steigender Krankenhausbelegung, sagte Christoph Neumann-Haefelin, Leiter der Arbeitsgruppe Translationale Virusimmunologie am Universitätsklinikum Freiburg. Man dürfe sich nicht darauf verlassen, dass es potenziell mildere Verläufe geben werde, sonst laufe man »sehenden Auges in die Katastrophe«.
»Ich kann nur appellieren, möglichst alle Tools zu nutzen, die wir haben, um das ein bisschen abzubremsen«, sagte Ciesek. Es gelte »zu hoffen und zu beten«, dass die Krankheitsschwere sich als geringer erweise. Sie vermute aber eher, dass es keinen Unterschied geben werde. Die Virologin warnte zudem vor überhöhten Erwartungen an Booster-Impfungen und vor Nachlässigkeit bei Verhaltensregeln. Auch eine Auffrischimpfung sei kein hundertprozentiger Schutz vor einer Infektion, sagte die Direktorin des Instituts für medizinische Virologie des Universitätsklinikums Frankfurt.
Mit Boostern allein ist nicht alles gut
Sie verwies auf Fälle von bereits geboosterten Menschen, die sich selbst infiziert und auch andere Personen angesteckt hätten. »Im Moment habe ich das Gefühl, dass vermittelt wird: Lassen Sie sich boostern und die Welt ist wieder gut. Das ist nicht so.« Auch der zeitliche Abstand seit der Impfung spielt eine entscheidende Rolle. Sie hatte vorige Woche erste Labordaten vorgelegt, die auf eine vergleichsweise schwache Abwehrreaktion gegen die stark mutierte Variante hindeuten. Bei Menschen, bei denen die Zweitimpfung bereits ein halbes Jahr zurücklag, habe kaum mehr Schutz vor einer Omikron-Ansteckung bestanden, sagte die Virologin.
Zwei Wochen nach einem Booster sei der Schutz vor Omikron je nach Impfstoff wieder auf 58 bis 78 Prozent gestiegen. Im weiteren Verlauf, etwa nach drei Monaten, falle er aber erneut ab, sagte Ciesek. In Einrichtungen, in denen Booster-Impfungen teils im Spätsommer verabreicht wurden, gelte es, weiter strikt Maske zu tragen, Abstand zu halten, Hygieneregeln einzuhalten, zu lüften und sich testen zu lassen. Auch jeder Einzelne könne prüfen, ob etwa der Besuch einer Veranstaltung nötig sei. Ciesek kritisierte, dass für Geboosterte zusätzliche Tests bei Corona-Zugangsregeln vorerst weitgehend entfallen.
Experten nehmen an, dass der Schutz Geimpfter vor schwerer Erkrankung bei Omikron besser sein dürfte als der Schutz vor einer Ansteckung. Nach bisherigen Daten ist Omikron in Deutschland im Vergleich zur Delta-Variante noch selten. (dpa)