BONN. In Deutschland könnten sich nach Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie mittlerweile möglicherweise 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Dies ergebe eine Schätzung auf der Grundlage einer Modellrechnung, teilte die Universität Bonn am Montag mit.
Ein führender Epidemiologe äußerte sich zurückhaltend. Die Forscher um den Virologen Hendrik Streeck zogen für ihre Schätzung die Dunkelziffer der Infizierten in der untersuchten Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg und die dort errechnete Sterblichkeitsrate bei einer Corona-Infektion heran. Die Forscher gehen davon aus, dass in Gangelt 0,37 Prozent der Infizierten gestorben sind. Allerdings flossen in die Berechnung der Sterblichkeitsrate nur sieben Todesfälle ein.
Aus diesen Daten errechneten sie eine theoretische Zahl für Deutschland. Das funktioniert im Prinzip so: Die Forscher gehen davon aus, dass in ganz Deutschland die Sterblichkeit in etwa gleich ist. Wenn also bekannt ist, wieviele Infizierte auf einen Toten kommen, kann man von der Zahl der Verstorbenen, die das RKI mit mehr als 6500 angibt, auf die Zahl der tatsächlich Infizierten - auch der nicht erfassten - schließen.
»Das muss man natürlich immer ein bisschen mit Vorsicht genießen, es ist eine Schätzung«, sagte Streeck dazu der Deutschen Presse-Agentur. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, warnte in einer Videokonferenz mit Journalisten davor, die Zahlen aus Gangelt auf ganz Deutschland zu übertragen. »Ich bin da doch eher zurückhaltend«, sagte er.
Man könne zum Beispiel argumentieren, dass der Anteil der Corona-Toten in Gangelt ungewöhnlich niedrig sei. Es sei denkbar, dass die Ausbreitung des Virus in Seniorenheimen - wie man sie in den vergangenen Wochen beobachtet habe - in der Studie noch nicht abgebildet werde. In der Modellrechnung falle aufgrund der kleinen Größe der Gemeinde zudem ein einzelner Todesfall mehr oder weniger stark ins Gewicht. Insgesamt bezeichnete Krause die Daten der Studie allerdings als »sehr überzeugend«.
Ein Forscher-Team um Streeck hatte in Gangelt an der niederländischen Grenze 919 Einwohner in 405 Haushalten befragt und Corona-Tests vorgenommen. In dem Ort hatten sich nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar viele Bürger mit dem neuartigen Virus infiziert. Die Gemeinde gilt daher als Epizentrum des Virus. Die Situation ist nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen Deutschlands - etwa ist die Zahl der Infizierten höher. Darauf weisen die Forscher in ihrer Studie auch hin. In die Berechnung der Sterblichkeitsrate flossen sieben Todesfälle ein. In der Stichprobe waren Kinder etwas unter-, ältere Menschen etwas überrepräsentiert.
Das Setting der Studie hatte - neben der Öffentlichkeitsarbeit durch die Berliner Agentur Storymachine - für Kritik gesorgt. Die Studie war im Auftrag der NRW-Landesregierung entstanden. Die Landesregierung wollte sich zu der Studie am Montag zunächst noch nicht äußern.
Im Zentrum der Studie stand laut Uni Bonn die Sterblichkeitsrate (IFR), die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt. Laut der Studie waren in Gangelt 15 Prozent der Menschen infiziert - die Infektionssterblichkeit liege bei 0,37 Prozent. Diese Sterblichkeitsrate könne man »als Schätzwert benutzen, um das auf Deutschland hochzurechnen«, sagte Streeck der dpa.
»Um Modellrechnungen zu machen, wie sich das Virus in der Bevölkerung auswirkt, brauchen wir Kenngrößen, um die Modelle zu verbessern«, führte Streeck aus. Bisher sei man von einem Spektrum von 0,2 bis 1,5 Prozent Sterblichkeitsrate ausgegangen, die Weltgesundheitsorganisation WHO habe sogar von 3,4 Prozent gesprochen. »Diese Spannbreite können wir durch diese Studie jetzt verringern auf einen sehr viel kleineren Fehlerbereich.«
Den Ergebnissen zufolge zeigten in Gangelt 22 Prozent der Infizierten »gar keine Symptome«. Sie wussten bis zum Test teilweise nicht, dass sie überhaupt krank waren. Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit und Co-Autor der Studie, sagte laut Mitteilung: »Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen. Das müssen wir uns bewusst machen und uns auch so verhalten.« Dies bestätige die Wichtigkeit der allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln in der Corona-Pandemie.
Ein weiterer Punkt, der für die Praxis interessant sein könnte, sei die starke Verbindung mit der Karnevalssitzung, sagte Streeck. Auffallend war, dass Personen häufiger Corona-Symptome hatten, die an der Karnevalssitzung teilgenommen hatten. Im Raum steht daher die Frage, ob körperliche Nähe zu anderen Feiernden und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben. Dazu plane man weitere Untersuchungen, erklärte Gunther Hartmann, Co-Autor der Studie und Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Uni Bonn. (dpa)