Der Chef der Internationalen Energieagentur IEA, Fatih Birol, hat die Energiepolitik der Ampelkoalition insgesamt positiv bewertet. »Ich denke, die deutsche Regierung war sehr erfolgreich darin, sich von der russischen Energie wegzubewegen«, sagte Birol der Deutschen Presse-Agentur in Paris vor dem Ministertreffen des Verbands. »Ich denke, Deutschland ist vielleicht das Land, das am meisten von der Invasion der Ukraine durch Russland betroffen war, weil Deutschlands Abhängigkeit von Russland sehr, sehr stark war.«
»Hoch-Risiko-Energiepolitik« vorheriger Regierungen
Im deutschen Wirtschaftsmodell habe die Industrie mehr oder weniger auf billiger und reichlich verfügbarer russischer Energie gefußt, führte Birol aus. Dann habe man das von einem auf den anderen Tag verloren. Die Regierung habe den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigt, andere Gasquellen gefunden, flüssiges Erdgas aus anderen Ländern importiert und in Rekordzeit LNG-Terminals gebaut. »Dies sind alles sehr gute Schritte.« Dabei sei es gar nicht einfach, im Energiesektor schnelle Veränderungen zu erzielen. »Der Energiesektor ist wie ein großer Tanker auf dem Ozean. Wenn man die Richtung ändern will, dauert das eine Weile.« Es bedürfe viel Infrastruktur und Installationen.
Birol betonte auch, dass die Ausgangslage für die Bundesregierung durchaus kompliziert gewesen sei. »Sie haben wegen der Hoch-Risiko-Energiepolitik der vorherigen Regierungen, nämlich die übermäßige Abhängigkeit von einem einzelnen Land, eine eher schwierige Position geerbt«, sagte Birol. »Insgesamt denke ich, dass die deutsche Regierung sehr gute Arbeit geleistet hat.«
Entlastungen für Kosten der Energiewende
Dennoch gibt es aus Birols Sicht einige ernsthafte Herausforderungen, die die Ampel angehen sollte. Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen müssen ihm zufolge durch unterstützende Finanz- und Wirtschaftsmaßnahmen geschützt werden. Die Energiewende sei mit vielen Kosten verbunden. Wenn diese Menschen die Kosten überproportional schultern müssten, könnte das Probleme bei der sozialen Akzeptanz hervorrufen. Birol warnte auch: »Wenn wir das nicht tun, könnte die Last für die Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen ein fruchtbarer Boden für extreme politische Ansichten bilden, was aus meiner Sicht eine Gefahr für unsere Demokratien ist.«
Das von der Ampel angedachte Klimageld als Kompensation für Mehrkosten durch einen steigenden CO2-Preis beim Tanken und Heizen mit fossilen Energien lobte Birol als »exzellente Idee«. Er wisse, dass es noch Diskussionen gebe und hoffe, dass Aspekte der Herausforderung schnellstmöglich geklärt werden können. Nach Aussagen von Bundesfinanzminister Christian Lindner ist ab 2025 technisch eine Pro-Kopf-Auszahlung möglich. Jeder Bürger sollte Geld vom Staat zurückbekommen. Das würde allerdings Milliarden kosten. Es ist umstritten, ob und wann die Koalition das Versprechen wahr macht.
Comeback der Atomkraft
Kritischer sieht Birol hingegen das Festhalten der Ampel am Atomausstieg, auch wenn er betont, dass jedes Land dies natürlich selbst entscheiden könne. »Wenn ich eine Regierung wäre, bei der es eine Technologie gebe, die hervorragend funktioniere, ohne jegliche Probleme, hätte ich nochmal darüber nachgedacht, diese beiseitezulassen und andere Optionen anzuschauen, die einerseits meine Abhängigkeit von anderen Ländern erhöhen und andererseits zu mehr Emissionen führen würden.« Die belgische Regierung hätte vor der russischen Invasion der Ukraine eine ähnliche Politik betrieben und dann ihre Meinung geändert.
Der Sinneswandel habe aber nicht nur Belgien betroffen. »Ich sehe, dass die Atomkraft ein Comeback hat«, sagte Birol. In Frankreich, in Asien, Nordamerika, im Mittleren Osten und anderswo. »Viele Länder haben nach der russischen Invasion der Ukraine die Bedeutung von Atomkraft zusammen mit Erneuerbaren und örtlicher Stromgewinnung verstanden.« Die Frage des Atommülls sei natürlich eine ernsthafte Herausforderung. Aber: »Ich denke nicht, dass dies ein Grund ist, die Technik einfach beiseite zu tun, ohne auf Lösungen für Atommüll zu schauen.« Das sei zwar eine Herausforderung, könne aber gelöst werden.
© dpa-infocom, dpa:240212-99-957321/3