REUTLINGEN. Messen werden abgesagt, Fußballspiele verlegt oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen. Schüler werden teilweise aufgefordert, zu Hause zu bleiben. In Italien wurde der gesamte Schul- und Hochschul-Betrieb lahmgelegt. Grund dafür ist das Coronavirus. Im Vergleich: Als vor zwei Jahren eine schwere Grippewelle in Deutschland grassierte, die insgesamt rund 25 000 Todesopfer forderte, war nicht annähernd so eine hektische Betriebsamkeit zu verzeichnen. Abgesagt wurde gar nichts, im Gegensatz zu heute, angesichts einiger hundert Infizierter. Der GEA hat bei Experten nachgefragt, denn die vom Bundesgesundheitsministerium empfohlenen Maßnahmen sorgen in der Bevölkerung doch für starke Verunsicherung.
- Warum werden zurzeit viele Veranstaltungen mit größeren Menschenmengen abgesagt?
Einfach gesagt: Um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, die natürlich viel größer ist, wenn viele Menschen auf engem Raum zusammen sind. Damit soll Zeit gewonnen werden. Viele Mediziner räumen ein, dass man noch nicht so viel weiß über das neue Coronavirus und darüber, wie es sich entwickelt. Das geben viele Mediziner zwar zu, wollen aber nicht namentlich zitiert werden, weil sie um ihr wissenschaftliches Renommee fürchten.
- Was ist so gefährlich an einem unbekannten Virus?
Im Gegensatz zu Influenza kennen wir dieses Virus und seine Krankheit noch gar nicht genau, haben keine Impfung, haben keine spezifische Therapie dagegen. Auch keiner von uns verfügt über eine natürliche Immunität dagegen. Es könnten also potenziell viel mehr Leute infiziert und krank werden, sagt der aus Nürtingen stammende Mediziner Georg Lauer, der am Massachusetts General Hospital und in Harvard in den Bereichen Virologie und Immunologie forscht.
- Gibt es derzeit neben dem Coronavirus auch eine andere Grippewelle?
Ja, und das macht die Lage doppelt schwierig. Das Gesundheitssystem hat derzeit ohnehin mit der »normalen« Grippewelle zu tun. Wenn dazu eine zweite Welle einer anderen Grippe käme, könnte das Gesundheitssystem schnell an die Grenzen kommen, sagt Lauer. Die Tübinger Medizinerin Lisa Federle, die mit dem Arzt-Mobil am Tübinger Galgenberg steht und Abstriche macht bei Leuten, die vom Virus angesteckt sein könnten, betont, wie wichtig der Faktor Zeit angesichts dieser zwei grassierenden Viren ist. Man müsse alles versuchen, den wirklichen Ausbruch des Coronavirus hinauszuzögern, bis die eigentliche, die »normale« Grippewelle wieder abgeebbt ist, sagt Federle.
- Wenn man aber noch nicht so viel weiß über das Coronavirus, ist es dann nicht übertrieben, Großveranstaltungen einfach abzusagen? Das ist ja immerhin auch mit immensen Kosten verbunden.
»Menschen haben Angst angesichts dieses aus China kommenden Virus’, und man müsse die Menschen in ihren Ängsten erst nehmen«, sagt Federle. Wenn man Veranstaltungen mit großen Menschenmengen absagt, minimiere man auf jeden Fall das Ansteckungsrisiko. Das sei eine präventive Maßnahme, und damit nehme man den Menschen ein Stück weit die Angst. Großveranstaltungen abzusagen, das seien schon sehr drastische Maßnahmen, räumt auch Lauer ein. Ob sie übertrieben seien, könne man, wenn überhaupt, erst im Nachhinein sagen. Würde man aber solche präventiven Maßnahmen nicht ergreifen und es käme zu einem massiven Ausbruch des Coronavirus, und die Sache würde aus dem Ruder laufen, würde man später den Entscheidungsträgern größte Vorwürfe machen, so Lauer.
- Welche Maßnahmen wären überzogen?
Wenn man jetzt in unserer Gegend plötzlich alle Schulen oder Kitas schließen würde, das wäre meines Erachtens zu viel des Guten, meint Federle. Elternteile müssten zuhause bleiben, großflächig müsste die Betreuung von Kindern umorganisiert werden. Elternteile, die im Krankenhaus, bei der Polizei oder bei der Feuerwehr arbeiten, könnten nicht mehr an ihre Arbeitsplätze, wo sie dringend gebraucht würden, weil sie ihre Kinder betreuen müssten.
- Ist denn das Coronavirus mit dem herkömmlichen Influenza-Virus zu vergleichen?
Der Tübinger Epidemiologe Prof. Thomas Iftner stellt im IHK-Magazin Zahlen gegenüber: In China wurden (Stand 19. Februar) 75 200 Fälle mit dem neuen Coronavirus gemeldet. Rund 2 000 Todesfälle waren zu verzeichnen, außerhalb Chinas nur sehr wenige. In Deutschland erkrankten jedes Jahr zwischen 2 und 24 Millionen Menschen an Influenza. Mit vielen tausend Toten pro Jahr bei einer großen Grippewelle.
- Gibt es auch vergleichende Zahlen zur Sterblichkeitsrate?
Bei den jährlichen Influenzawellen geht man von einer Letalität von 0,1 bis 0,2 Prozent aus. Also von ein bis zwei Toten auf 1 000 Infizierte, schreibt das Science Media Center Germany. Bei der schweren Asiengrippe im Jahr 1957 lag die Letalität bei 0,5 Prozent. Laut Weltgesundheitsorganisation waren in China – ohne das Epizentrum Hubei – sieben Tote bei 1 000 mit dem Coronavirus infizierten Menschen zu verzeichnen. Ob diese Letalität sich auch auf europäische Länder übertragen lässt, »kann derzeit niemand seriös beantworten«, so das WHO. Allerdings: Selbst wenn die Schwere der Erkrankung und die Sterblichkeit bei Corona nicht größer sind als bei der Influenza, dann erkranken potenziell trotzdem mehr Menschen, weil niemand geimpft ist oder durch eine vorherige Infektion Immunität besitzt, betont Lauer. Bei der Grippe habe ja doch zumindest ein signifikanter Anteil der Bevölkerung mindestens einen gewissen Schutz.
- Neigen die Medien zur Panikmache?
»Wenn ich die Tageszeitungen in Reutlingen oder Tübingen anschaue, berichten die sachlich darüber. Das ist gut so. Eine ausführliche Berichterstattung ist wichtig, weil die Menschen mitbekommen, was in der Welt los ist. Genauer gesagt in China in diesem Fall. Sie tendieren dazu, Angst zu haben und wollen deshalb informiert werden. Deshalb ist eine sachliche Berichterstattung wichtig«, sagt Lisa Federle. Sie betont aber auch, dass sie sich erschrecke, wenn in privaten TV-Sendern dazu aufgerufen werde, sich mit Lebensmitteln einzudecken. »Das ist reine Panikmache.« (GEA)