Krisen überschlagen sich, die Arbeit wächst einem über den Kopf, private Sorgen kommen hinzu: Stress setzt vielen Menschen immer stärker zu - und ihren Herzen. Die Zahl stressgeplagter Herzpatientinnen und -patienten sei in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen, teilte die KKH Kaufmännische Krankenkasse am Mittwoch in Hannover unter Berufung auf Daten der eigenen Versicherten mit. Zwischen 2011 und 2021 hätten Herz-Kreislauf-Erkrankungen um rund 17 Prozent zugenommen - im Zusammenhang mit psychischen Diagnosen sogar um rund 37 Prozent.
Mittlerweile erhält den Angaben zufolge durchschnittlich jeder zehnte Herzpatient eine Stressdiagnose, unter den berufstätigen Versicherten im Alter zwischen 25 und 64 Jahren ist es demnach sogar jeder und jede Siebte. Insgesamt gab es 2021 rund 565.000 KKH-Versicherte mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, davon erhielten zehn Prozent auch eine stressbedingte psychische Diagnose, etwa wegen akuter Belastungsreaktion oder Depression. Die KKH ist eine der größten bundesweiten gesetzlichen Krankenkassen mit rund 1,6 Millionen Versicherten.
Großer Risikofaktor
»Dauerstress gehört neben Rauchen und zu hohem Alkoholkonsum zu den wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen«, erklärte KKH-Ärztin Sonja Hermeneit. Daten der Kasse zeigten, dass bei Versicherten mit kardiovaskulären Diagnosen, also Erkrankungen des Herzens und der Blutgefäße wie etwa Bluthochdruck, Angina Pectoris und Herz-Rhythmusstörungen, der Anteil der Patientinnen und Patienten mit stressbedingten psychischen Leiden um ein Viertel höher sei als normalerweise.
Sogenannte kardiovaskuläre Erkrankungen könnten verbunden mit Stress schon jüngeren Patienten zusetzen, sie seien keine Alterserscheinung, warnte sie. Auffallend laut KKH: Unter den 20- bis 24-Jährigen gab es zwischen 2019 und 2021 mit einem Plus um 11 Prozent den größten Anstieg aller Altersgruppen bei Bluthochdruck. Bei den 30- bis 34-Jährigen wiederum verzeichnete die Krankenkasse in dem Zeitraum eine Zunahme um 9 Prozent bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Kombination mit stressbedingten psychischen Diagnosen - ebenfalls der größte Anstieg aller Altersgruppen. »Das ist ein neues Phänomen«, sagte Professor Kai Kahl von der Medizinischen Hochschule Hannover.
Der Stress nimmt zu
»Chronischer Stress und enorme psychische Belastungen steigern das Risiko für einen hohen Blutdruck und die Entwicklung weiterer Herzerkrankungen«, erklärte Hermeneit. Stress als Treiber solcher Diagnosen müsse ernst genommen werden. Denn laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage unter bundesweit gut 1000 Menschen zwischen 18 und 70 Jahren fühlen sich 84 Prozent der Befragten gelegentlich gestresst - 43 Prozent häufig oder sehr häufig. Und: Jeder und jede zweite Befragte habe das Gefühl, in den vergangenen ein bis zwei Jahren sei das Leben stressiger geworden.
Wer gestresst ist, fühlt vor allem Unruhe, Nervosität oder Gereiztheit. Das sagen 64 Prozent der Befragten. 62 Prozent fühlen sich unter Druck müde oder haben Schlafstörungen, 59 Prozent beschreiben sich als erschöpft und ausgebrannt. Vielen Menschen schlägt der Stress auf die Seele - jeder dritte Befragte sprach von niedergedrückter Stimmung und Depressionen. Jeder Sechste leidet unter stressbedingten Angstzuständen, unter den 18- bis 34-Jährigen sogar jeder Vierte. Psyche und Körper seien auch auf Phasen der Entspannung angewiesen, warnte Hermeneit. Gibt es diese nicht, kommt es zu Dauerstress.
Stress zieht schlechte Angewohnheiten nach sich
Und der geschieht nicht nur im Kopf, sondern zeigt sich am Herzen, wie Kahl erklärte. Herzverfettung könne die Folge sein. "Bei anhaltendem Stress nehmen wir außerdem häufig Verhaltensweisen an, die der Gesundheit zusätzlich schaden", sagte Hermeneit. "Wir bewegen uns oft weniger, essen mehr oder ernähren uns ungesünder, trinken mehr Alkohol." Immerhin: 67 Prozent der Befragten bewegen sich zum Ausgleich mehr. Sie kritisierte: "Während zu wenig Bewegung, schlechte Ernährung, Alkohol und Rauchen als kardiovaskuläre Risikofaktoren unangefochten sind, werden psychische
Belastungen oft nicht in gleicher Weise berücksichtigt."
»Dank der modernen Herzmedizin ist die Zahl der Todesfälle durch schwere akute Herzerkrankungen inzwischen rückläufig«, sagte Kahl. Aber muss es so weit kommen? Mittlerweile könne die wechselseitige Beziehung zwischen Herz und Seele gut erforscht werden, erklärte der Psychokardiologe. »Je früher dies geschieht, desto besser: Werden leichtere psychische Erkrankungen wie akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen erfolgreich behandelt, noch bevor sie in ein schwereres seelisches Leiden wie eine Depression münden, sind die Chancen deutlich besser, dass das Herz nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.« Die Psychokardiologie werde noch zu selten eingesetzt.
Aber was ist so stressig? Jeder zweite Befragte setzt sich laut Umfrage mit hohen Ansprüchen an sich selbst unter Druck, unter den 18- bis 34-Jährigen sogar rund zwei Drittel. Von Ausbildung oder Beruf fühlen sich 43 Prozent der Befragten belastet, bei den 18- bis 34-Jährigen sind es 65 Prozent. Für Stress sorgen aber auch weltweite Krisen wie der Klimawandel, außerdem die hohe Inflation oder der Krieg in der Ukraine (44 Prozent) - und für rund ein Drittel die ständige Erreichbarkeit via Smartphone. Kahl riet, wohlwollend miteinander umzugehen und ein Klima der Resilienz zu schaffen. Und: »Die beste Stressprävention beginnt bei einer glücklichen Kindheit.«
© dpa-infocom, dpa:230705-99-295235/2