GENF. Die Corona-Lage in der Schweiz ist dramatisch. Pro 100.000 Einwohner gab es zuletzt innerhalb von sieben Tagen 351 Infektionen, in Deutschland unter 140.
Seit Beginn der Pandemie sind pro 100.000 Einwohner in der Schweiz 41 Menschen gestorben, in Deutschland 16. Das sind Spitzenwerte im europäischen Vergleich - und dennoch geben sich Politik, Behörden und die Gesellschaft entspannt.
Vielerorts sind Bars, Restaurants und Kinos geöffnet, auf Märkten herrscht reges Treiben, in Kasinos wird gezockt, in Fitnesscentern geschwitzt, und Bordelle sind auch geöffnet. Die Bundesregierung hob die Höchstzahl von 1000 Zuschauern bei Großveranstaltungen am 1. Oktober auf. Einkaufszentren landauf, landab haben mit dem Weihnachtsgeschäft begonnen, in einem Fall mit einem Gewinnspiel, bei dem sich Hunderte dicht gedrängt auf ein paar Lose stürzten.
»Die Schweiz stellt Sparsamkeit über das Leben«, titelte die US-Zeitschrift »Foreign Policy« gerade. Der Autor Joseph de Weck, ein Schweizer Historiker, ist empört über einen Satz von Finanzminister Ueli Maurer, der meinte, die Schweiz könne sich keinen zweiten Lockdown leisten. »Er zeigt, dass es für die Schweiz vollkommen in Ordnung ist, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung zwischen Gesundheit und Geld zu führen«, sagte er dem Sender SRF. Maurer steht dazu. Im Videointerview auf der Webseite seiner Partei, der rechten SVP, sagte er am 10. November, Wissenschaftler sähen nur die Gesundheit, aber man müsse schließlich auch Geld verdienen.
Eigentlich müssten die Kantone handeln. Föderalismus ist eine heilige Kuh in der Schweiz. Die Kantone verteidigen ihre Hoheiten mit Zähnen und Klauen. Nur zu Beginn der Corona-Pandemie hielten sie sich zurück. Im Frühjahr übernahm kurz die Bundesregierung das Zepter und schloss für vier Wochen alle Geschäfte, Clubs und Restaurants. Doch nach der ersten Entspannung löste der Krisenstab sich im Juni auf und überließ die Verantwortung wieder den Kantonen. Mit fatalen Folgen.
Im Oktober sind die Infektionszahlen explodiert, trotz wochenlanger Mahnungen der Wissenschaftler. Dutzende Ökonomen schrieben Anfang November einen offenen Brief: »So schwer es fällt und so schmerzhaft es sein wird, die Schweiz braucht einen zweiten Lockdown, gekoppelt mit umfassenden fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen, um weiteren Schaden durch die Corona-Pandemie abzuwenden.«
Im Kanton Genf geriet die Lage fast außer Kontrolle, mit deutlich über 1000 Fällen pro 100.000 Einwohner. So schlimm war es in keiner Region Europas. Anfang November reagierte die Kantonsregierung mit einem Lockdown: Sämtliche Geschäfte, Dienstleister und Restaurants wurden geschlossen. Mit dem Ergebnis, dass die Genfer sich teils noch mehr bewegen, etwa, um im Nachbarkanton Waadt zum Friseur zu gehen. Viel zu spät zogen auch andere Kantone die Zügel an. Erst diese Woche schließen auch in der Stadt Basel Restaurants, Bars, Cafés, Fitnesscenter, Kunsteisbahnen, Hallenbäder und Kasinos.
Das Bundesamt für Gesundheit bleibt entspannt: »Die Entwicklung stimmt mich tatsächlich vorsichtig optimistisch, es sieht nach einer Trendwende aus«, sagte die Chefin Anne Lévy dem »Sonntagsblick«. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist von mehr als 450 pro 100.000 (vom 9. bis 15 November) auf zuletzt rund 350 Neuinfektionen binnen einer Woche gefallen. Auf 14 Tage berechnet liegt die Schweiz in Westeuropa damit aber mit an der Spitze, vor Italien, Großbritannien und Frankreich. Lévy macht daraus: »Wir stehen nicht wesentlich schlechter da als das europäische Ausland.«
David Nabarro, der Covid-Beauftragte der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ihren Sitz in Genf hat, kann es nicht glauben. »Es überrascht mich, dass es nicht als nationaler Notstand behandelt wird«, sagt er den Zeitungen des Medienunternehmens CH-Media.
Doch die »Neue Zürcher Zeitung« zollt der Schweizer Strategie Respekt: »Kein Lockdown, keine Panik - der Bundesrat behält im Corona-Stress die Nerven. Das verdient Respekt«, schreibt sie in einem Kommentar. »Wenn der Großteil der Bevölkerung dieselbe Gelassenheit aufbringt wie der Bundesrat, dann kommt es gut.« (dpa)