MÜNCHEN/MÜNSTER. Zwei Wochen, drei Wochen, vier Wochen zu Hause, mit den immerselben Menschen - oder ganz allein. Vielleicht mal frische Luft schnappen, aber möglichst nicht mit anderen in Kontakt kommen. Die Corona-Krise wird die Menschen verändern.
Familien stehen in vielfacher Hinsicht vor Herausforderungen, wie die Paar- und Familienpsychologin Anne Milek von der Universität Münster sagt. »Das Stresslevel ist ungleich höher, weil der Alltag nicht mehr so eingespielt ist.« Zur permanenten Betreuung der Kinder kämen vielleicht Existenzängste und Angst vor einem Jobverlust hinzu. Selbst wer gesund sei, sorge sich um Alte und Kranke. Auch wenn der Zeitraum noch überschaubar sei - »Urlaub ist das sicher nicht«.
Wichtig sei, Verständnis für die Angst anderer zu haben, sagt Peter Zehentner. Er ist unter anderem Leiter des Krisen-Interventions-Teams München beim Arbeiter-Samariter-Bund. »Angst schaltet Vernunft aus, sie ist kaum steuerbar und rational nicht erklärbar.« Friedvolle Menschen würden plötzlich aggressiv. Hier könne man versuchen, den Erhalt des Wichtigsten in den Fokus zu rücken: »Du bist noch gesund, das ist gut. Und alles andere ist erstmal Luxus.«
Anke Lingnau Carduck, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, sagt: »Die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie setzt die gesamte Welt unter Stress, und das wird auch in den Familien spürbar«. So steige innerfamiliärer Stress um Themen wie Spielekonsolen und Fernsehen. Doch die Forschung zeige, dass die meisten Familien angesichts von Krisen und Widrigkeiten innere Widerstandskraft entwickelten.
Sie berichtet von Lösungsansätzen: »Ein erster Schritt besteht darin, die Situation als einen vorübergehenden Zustand zu sehen und die Perspektive wieder zu erweitern.« So sollte im TV auch Lustiges gesehen werden. Familien sollten miteinander die Herausforderung von Langeweile annehmen und kreativ zu bewältigende Aufgaben für jedes Mitglied erfinden: »Jetzt ist eine gute Zeit zum Erlernen neuer Fähigkeiten, altersgemäß im häuslichen Miteinander«, sagte sie. »Vielleicht kochten nach der Corona-Krise ja neuerdings die Kinder leidenschaftlich gerne, der Papa hat das Malen für sich entdeckt und die Mama hat Spaß und Ehrgeiz an einem digitalen Spiel gefunden?«
Ähnlich äußerte sich jüngst der Regensburger Neurowissenschaftler Volker Busch im Radiosender Bayern 3: »Vielleicht ist es eine Chance, wieder zurückzuentdecken, dass man gemeinsam am Tisch ein Gesellschaftsspiel spielen kann.« Das zwangsweise Zusammenrücken könne eine Chance sein, Gemeinschaft wiederzuentdecken »und vielleicht dabei auch zu spüren, dass wir dafür die Tennishalle und das Fitnessstudio und das Kino eigentlich gar nicht brauchen«, sagte der Psychologe von der Uni Regensburg.
Von einer Chance spricht auch Sozialpsychologin Elisabeth Kals von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: »Wichtig ist, das positiv zu nutzen.« Kinder freue es, wenn Eltern zu Hause seien. Die müssten aber mit guten Beispiel vorangehen und nicht die ganze Zeit daddeln. Die Familie könne sich überlegen, ob sie Nachbarn helfen kann. »Kinder können jetzt lernen, wie man mit Herausforderungen umgeht.« Der Zusammenhalt zwischen den Generationen könnte intensiver werden. Kals spricht von einem »Lackmustest für die Gesellschaft«.
Paare könnten angesichts der Lage ebenfalls über sich hinauswachsen, ist Milek überzeugt: »Kleine Streits fallen hinten runter.« Also doch kein Lagerkoller? Milek vermutet, dass die Scheidungsrate in den Keller geht. »In einer ökonomischen Krise, in Unsicherheit hält man zusammen.« Wer das Tal nicht überwinde, verschiebe die Scheidung auf später. Anders sieht es Julia Scharnhorst, Vizepräsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen: »In solchen Zeiten besteht definitiv eine höhere Trennungsgefahr.« Das kenne man von Weihnachten. Wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, falle zum Beispiel schneller auf, wenn die Werte nicht zueinander passen.
Professorin Kals meint: »Wer wenige Wochen nicht gemeinsam gemeistert kriegt, sollte sich hinterfragen, was man dann zusammen schaffen will.« Da sei die Überlegung hilfreich, was in den ersten Wochen der Verliebtheit anders war. Und auch Busch meint: »Ich glaube, dass die Ursache dafür, dass sich Menschen jetzt scheiden, nicht die letzten zwei Wochen waren. Dann war schon was anderes kaputt.«
In eine völlig andere Richtung gehen Spekulationen über einen Babyboom in einigen Monaten, wie es ihn etwa infolge des Schneechaos gegeben haben soll, das Ende 2005 das Münsterland tagelang lahmlegte. So hamstern Franzosen angeblich derzeit statt Nudeln lieber Kondome.
Wer aktuell durch Grenzschließungen getrennt ist, kann zumindest technische Möglichkeiten nutzen. »Die Digitalisierung kommt uns sehr zu Gute, um nicht völlig abgeschnitten zu sein«, so Milek. Telefonieren und skypen helfe den derzeit voneinander getrennten Menschen, »eine echt interessierte Rückkopplung, Trost und Zuspruch zu erfahren, daheim Erlebtes teilen zu können«, sagt Lingnau Carduck.
Singles schützten digitale Medien ebenfalls vor Einsamkeit, sagt sie. Und wenn man vielleicht eh schon psychisch labil ist? Sozialpädagoge Zehentner rechnet sogar mit einer sinkenden Zahl an Suiziden. »Die Corona-Krise lenkt die Leute ab.« Die Betroffenen würden oftmals aus ihren Gedanken auf den Suizid hin rausgeholt. »Es kann sogar sein, dass es Suizidalen und Depressiven aktuell bessergehen kann«, so Zehentner. »Das haben wir auch während der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland erlebt.« Nichtsdestotrotz könne die Situation zum Beispiel bei Menschen mit Ängsten zu massiven Problemen führen.
Ähnlich rät Kals ganz allgemein: »Nicht im eigenen Saft schmoren, sondern erkennen, welche großen Themen wir haben, das ist eine Entwicklungschance.« Und Busch sagt: »Es kommt drauf an, wie wir es gestalten - auch wenn wir dafür mal ein paar Wochen die Haustür verschließen müssen, kann das Leben auf diese Weise weitergehen.« (dpa)