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Cybergrooming - Fall Ayleen offenbart Gefahren im Netz

Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit im Internet. Experten warnen vor den wachsenden Gefahren sexueller Gewalt und beklagen fehlende Schutzmechanismen.

Cybergrooming
Im Kampf gegen sexuelle Gewalt im Internet sind aus Expertensicht neue polizeiliche Online-Strategien nötig. Foto: Mohssen Assanimoghaddam/DPA
Im Kampf gegen sexuelle Gewalt im Internet sind aus Expertensicht neue polizeiliche Online-Strategien nötig.
Foto: Mohssen Assanimoghaddam/DPA

Sie agieren häufig anonym und aus der Ferne, können Kindern und Jugendlichen aber bedrohlich nah kommen: Immer wieder nutzen zwielichtige Internetuser soziale Netzwerke wie Tiktok, Snapchat und Instagram sowie Online-Spiele für sexuelle Belästigung und Missbrauch von Minderjährigen.

Der Fall der 14-jährigen Ayleen aus Baden-Württemberg, die im Juli vergangenen Jahres vermutlich von einem 30-jährigen Mann nach monatelangen sexualisierten Chats in Hessen getötet wurde, verdeutlicht eindringlich, wie Kinder und Jugendliche zur Zielscheibe des sogenannten Cybergrooming werden. Nach rund dreiwöchiger Pause wird der Mordprozess gegen den Mann vor dem Landgericht Gießen am Montag (10. Juli) fortgesetzt.

Der Begriff Cybergrooming steht für das gezielte Ansprechen von Minderjährigen im Netz zum Anbahnen sexueller Kontakte - Kriminologen sind besorgt und gehen von einer deutlichen Zunahme der Fälle aus. Täter nutzen in solchen Fällen geschickt die Unerfahrenheit junger Menschen aus. Mit einer perfiden Mischung aus anfangs vermeintlich harmlosen Nachrichten, Komplimenten und Versprechungen und später Druck und Drohungen bedrängen sie ihre Opfer und bringen sie dazu, beispielsweise Nacktfotos und sexualisierte Videos zu übersenden, wie etwa Jugenschutz.net warnt, ein Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet.

Statistik nur bedingt aussagekräftig

Das Problem: Auch wegen fließender Grenzen zur Kinderpornografie ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) beim Cybergrooming nur bedingt aufschlussreich, wie der renommierte Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger von der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg sagt. Für 2022 wurden in der PKS 2878 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit »Einwirken auf Kinder ohne Körperkontakt« erfasst. Das Dunkelfeld aber dürfte weitaus größer sein - schon allein, weil immer jüngere Kinder schon über Smartphones verfügen und Kinder und Jugendliche sehr viel Zeit im Netz verbringen. Er fordert unter anderem eine »Kinder-Onlinewache« als Anlaufstelle für betroffene Minderjährige und »virtuelle Polizeistreifen«, auch um potenzielle Täter abzuschrecken.

Auch Julia von Weiler, Vorstand der internationalen Kinderschutzorganisation Innocence in Danger, beschreibt die Gefahren mit drastischen Worten: Das Internet wirke wie ein »gigantischer Brandbeschleuniger« für sexuelle Gewalt, sagt sie. Täter könnten zu jeder Tages- und Nachtzeit unbeobachtet Kontakt zu Minderjährigen aufnehmen, es gebe keine kommunikativen Pausen mehr, über Tablet und Smartphone säßen sie regelrecht »am Bett« von Kindern und machten sich diesen strategischen Vorteil skrupellos zunutze.

Die Diplom-Psychologin von Weiler sieht vor allem die Gesetzgeber in der Pflicht. Strafverfolger müssten an Daten kommen können, und es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, Missbrauchsdarstellungen aus dem Netz zu löschen. Für von Weiler gehen etwa die Vorschläge von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in die richtige Richtung, mit denen diese die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen im Internet eindämmen will. Kritiker diskutieren die Vorschläge unter dem Schlagwort »Chatkontrolle« - sie sehen darin einen Versuch, die Kommunikation im Netz zu scannen und fürchten Massenüberwachung.

Problem fehlende Medienkompetenz

Auch die Zentralstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat immer wieder bei Ermittlungen zu Kinderpornografie mit dem Phänomen Cybergrooming zu tun, wie Staatsanwältin Julia Bussweiler berichtet. Dass die Opfer überhaupt einwilligen, etwa sehr persönliche Bilder von sich zu teilen, habe auch viel mit fehlender Medienkompetenz zu tun, sagt die Juristin. »Wir sehen immer wieder, dass Kinder eine Online- und eine Offline-Identität haben.« Diese virtuelle Persönlichkeit sei dann so, wie die Opfer glaubten, sein zu müssen, um gemocht zu werden oder wie von Influencern vorgespiegelt. »Die glauben, sie müssen ein bisschen sexy und verrucht tun - aber im wirklichen Leben finden sie den Gedanken, einen Jungen zu küssen, noch total eklig.«

Bussweiler geht ebenfalls davon aus, dass vermutlich nur relativ wenige Taten angezeigt werden. Das liege auch daran, dass viele Opfer sich schämen, etwa mit ihren Eltern zu sprechen. Gesetzlichen Schutz vor Cybergrooming gibt es für Kinder. Ab 14 Jahren ist es dann komplizierter. Wenn beispielsweise ein 20-Jähriger mit einer 15-Jährigen Bilder macht, ist das strafrechtlich in Ordnung, solange es freiwillig und nur für den persönlichen Gebrauch geschieht. Werden intime Bilder von Jugendlichen ohne deren Wissen weiterverbreitet und geteilt, sei das hingegen strafbar.

Auch die 14-jährige Ayleen soll vor ihrem Tod von dem Angeklagten mit einer »erdrückenden Zahl an Nachrichten«, mit Geldversprechen und Drohungen in die Enge getrieben worden sein, bis sie keine Möglichkeit mehr gesehen habe, aus diesem »Teufelskreis« auszubrechen, wie es Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger formuliert hatte. Er geht von einem sexuellen Motiv für die Tat aus - der Angeklagte hingegen gab in einer Erklärung an, das Mädchen im Streit getötet zu haben. Das Gießener Landgericht will am vierten Prozesstag die Sichtung eines polizeilichen Vernehmungsvideos des Angeklagten fortsetzen.

© dpa-infocom, dpa:230709-99-340320/2