Fast genau drei Jahre nach seinem Amtsantritt hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit einem Antrag auf Vertrauensfrage den Weg zur Neuwahl des Bundestags am 23. Februar bereitet. Ein Bote brachte das Schreiben vom Kanzleramt in das keine 600 Meter entfernte Reichstagsgebäude zu Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Das Dokument soll dazu führen, dass die Bundestagswahl sieben Monate früher als geplant stattfindet.
Der von Scholz persönlich unterzeichnete Antrag besteht nur aus zwei Sätzen: »Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Montag, dem 16. Dezember 2024, hierzu eine Erklärung abzugeben.«
Scholz bittet die Abgeordneten zwar um ihr Vertrauen, erreichen will er aber das Gegenteil: Dass eine Mehrheit dem Antrag nicht zustimmt. In diesem Fall hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 21 Tage Zeit, auf Bitten des Kanzlers den Bundestag aufzulösen und den Neuwahltermin festzulegen.
»In einer Demokratie sind es die Wählerinnen und Wähler, die den Kurs der künftigen Politik bestimmen«, sagte Scholz nach Einreichung des Antrags. »Sie entscheiden bei der Wahl, wie wir die großen Fragen beantworten, die vor uns liegen.« Dazu zählte der Kanzler die Sicherung von Arbeitsplätzen, die Modernisierung der Industrie, verlässliche Pflege und Gesundheitsversorgung, stabile Renten und eine Friedenslösung für die Ukraine.
Wird der Bundespräsident den Plan mittragen?
Dass Steinmeier die Auflösung des Bundestags verweigert, ist praktisch ausgeschlossen. Er hat bereits erklärt, nach welchem Maßstab er entscheiden werde: »Unser Land braucht stabile Mehrheiten und eine handlungsfähige Regierung.« Das ist seit dem Rauswurf von FDP-Finanzminister Christian Lindner und dem damit verbundenen Aus der Ampel-Koalition am 6. November nicht mehr gegeben. Scholz führt seitdem eine von SPD und Grünen getragene Regierung, die im Bundestag keine Mehrheit mehr hat und deswegen ohne Unterstützung aus der Opposition nichts mehr durchsetzen kann.
Wie wird die Abstimmung am Montag ablaufen?
Im Bundestag wird Scholz den Abgeordneten am Montag seine Gründe für die Vertrauensfrage in einer etwa 25-minütigen Rede erläutern. Anschließend wird es eine rund 90-minütige Aussprache geben. Danach entscheidet das Parlament voraussichtlich in namentlicher Abstimmung. Das bedeutet, dass das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten mit etwas Verzögerung veröffentlicht wird. Es kann sich also kein Parlamentarier anonym für oder gegen Scholz aussprechen.
Ist sicher, dass Scholz keine Mehrheit bekommt?
Es ist praktisch sicher, dass Scholz mit der Vertrauensfrage scheitert. Dem Bundestag gehören 733 Abgeordnete an. Um das Vertrauen des Parlaments zu bekommen, müsste Scholz 367 Stimmen erhalten - die absolute Mehrheit aller Parlamentarier, auch »Kanzlermehrheit« genannt. Die SPD-Fraktion mit ihren 207 Abgeordneten will dem Kanzler zwar das Vertrauen aussprechen. Die Grünen, der noch in der Regierung verbliebene Juniorpartner der SPD, verkündeten aber am Mittwoch nach langem Zögern, dass sie sich enthalten wollen. »Um zu einer vorgezogenen Neuwahl des Bundestags zu kommen, muss die Vertrauensfrage scheitern. Mit einer Enthaltung der Grünen-Bundestagsfraktion ermöglichen wir dies«, erklärten die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge.
Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Die Grünen wollen damit ausschließen, dass die AfD die Neuwahl-Pläne der Koalition durchkreuzt. Würden die Grünen für Scholz stimmen, wären das zusammen schon 324 Stimmen, also nur 43 weniger als die Kanzlermehrheit. Dann könnte die AfD mit ihren 76 Abgeordneten Scholz rein rechnerisch zu einer Mehrheit verhelfen. Das gilt mit der Entscheidung der Grünen aber als ausgeschlossen.
Wie geht es weiter, wenn Scholz verliert?
Er wird dann Bundespräsident Steinmeier vorschlagen, den Bundestag aufzulösen, wozu der dann drei Wochen Zeit hat, also bis zum 6. Januar. Wenn Steinmeier sich dafür entscheidet, was als sicher gilt, muss die Neuwahl innerhalb von 60 Tagen stattfinden. SPD, Grüne und die Union als größte Oppositionsfraktion haben sich auf den 23. Februar als Wahltermin verständigt. Der Bundespräsident hat bereits erkennen lassen, dass er diesen Termin für realistisch hält.
Ist der Bundestag nach der Auflösung noch handlungsfähig?
Ja. »Der «alte» Bundestag bleibt bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages mit all seinen Rechten und Pflichten bestehen«, heißt es in einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Das Parlament kann jederzeit wieder zusammentreten, es kann weiter Gesetze beschließen, auch seine Gremien wie Untersuchungsausschüsse bestehen bis zum Ende der Wahlperiode fort. Dieses Ende ist mit dem ersten Zusammentreten des neu gewählten Bundestages erreicht.
Ist es denn realistisch, dass der Bundestag noch weitreichende Beschlüsse fasst?
Scholz wirbt für die Verabschiedung mehrerer Gesetzesvorhaben mit finanziellen Entlastungen noch vor Weihnachten. »Ein Schulterschluss der demokratischen Mitte in diesen wichtigen Fragen wäre ein starkes Zeichen«, sagte der SPD-Politiker nach Einreichung seines Antrags. Er appelliere an die Abgeordneten auch der Opposition: »Lassen Sie uns gemeinsam handeln im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.« Ob die Union als größte Oppositionsfraktion da mitmacht, ist offen.
Worum geht es konkret?
Konkret geht es um Erhöhungen von Kindergeld und Kinderzuschlag, Entlastungen bei der sogenannten kalten Progression bei der Einkommensteuer, die finanzielle Absicherung des Deutschlandtickets und eine Stabilisierung der Stromnetzentgelte. Es gehe um »wenige, aber ganz wichtige Entscheidungen«, die aus seiner Sicht keinerlei Aufschub duldeten, sagte Scholz.
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