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Stuttgarter Chorknaben proben digital

Videokonferenz statt Probenraum: Ein Stuttgarter Chor ist während der Corona-Krise kreativ geworden. Jugendliche müssen dabei meistern, was gerade auch viele Unternehmen beschäftigt.

Rainer Homburg
Rainer Homburg, künstlerischer Leiter der Hymnus-Chorknaben, bei einer Chorprobe, die als Videokonferenz stattfindet. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
Rainer Homburg, künstlerischer Leiter der Hymnus-Chorknaben, bei einer Chorprobe, die als Videokonferenz stattfindet. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

STUTTGART. Felix Mendelssohn Bartholdy hätte seinen Augen und Ohren vermutlich nicht getraut. Mehr als zwei Jahrhunderte nach der Geburt des Komponisten jagen 60 Chorstimmen über WLAN-Funkwellen und durch Netzwerkkabel. Sie singen sein Stück »Jauchzet dem Herrn, alle Welt«: Die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben proben digital.

Die Stimmen laufen am Laptop von Rainer Homburg zusammen, dem Leiter des renommierten Knabenchors. »Wir haben ein System von Online-Tutorials erfunden«, sagt er. In Zeiten von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie müssen große Gruppen wie Chöre einfallsreich sein. Neben der musikalischen Praxis fielen derzeit der direkte Austausch und das verbindende Gemeinschaftserlebnis weg, sagt die Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbands, Veronika Petzold. Sie rate, zusammen kreativ zu werden und dabei auch die digitalen Möglichkeiten auszuschöpfen.

Bald nach den ersten Einschränkungen wegen der Corona-Krise fing Homburg an, Videos zu verschicken, in denen er Stücke vorsingt oder auf dem Flügel vorspielt. Die jungen Sänger singen dazu und schicken die Aufnahme als Tondatei an den Leiter zurück. Per E-Mail bekommen sie Tipps. Das funktioniere alles sehr gut, sagt Homburg.

Einmal pro Woche sind die Mitglieder gleichzeitig anwesend – virtuell, in einem Programm für Videokonferenzen. Im Probenraum des Chors in Stuttgart sind die Stühle ordentlich gestapelt und an die Wände geschoben. Wo sich sonst 110 Chorknaben im Alter von 9 bis 29 Jahren drängen, sitzt jetzt nur noch Leiter Homburg an seinem Flügel. Aus kleinen Fenstern auf seinem Laptop-Bildschirm blicken ihm 60 meist jugendliche Sänger entgegen, zugeschaltet aus Kinder-, Jugend- und Wohnzimmern in der Umgebung.

»Friedrich und Anton, ihr müsstet einfach nichts sagen. Oder ich muss euch bitten, das Mikrofon auszuschalten. Ich hör das!«, mahnt Homburg. Beim ersten Versuch der gemeinsamen Probe muss der Knabenchor schaffen, was zurzeit auch viele Unternehmen beschäftigt, die in der Corona-Krise schnell ins Digitale ausweichen mussten: Verhaltensregeln aufstellen für eine Videokonferenz.

»Das funktioniert nur mit maximaler Funkdisziplin, was wir hier machen«, sagt Homburg. Am Anfang hat zwar mancher noch sein Mikrofon eingeschaltet und quatscht dazwischen, ein anderer sitzt im Gegenlicht und ist schlecht zu sehen. Aber schon nach wenigen Minuten ist Ruhe. 60 Sänger, viele im besten Alter für Streiche und Unsinn, haben sich auf Regeln geeinigt: Mikro aus. Melden, wer was sagen will. »Daumen nach oben«, wenn man verstanden hat. »Sie sind gewöhnt, dass sie still sein müssen. Wenn hier hundert Leute drin sind und jeder quatscht, dann wird das auch nichts«, sagt Homburg.

Bei der Probe singen die jungen Leute zwar gleichzeitig, aber nicht gemeinsam. Ihre Mikrofone lassen sie ausgeschaltet und singen für sich, was Homburg dirigiert oder vorspielt. So könnten sie das Gefühl bekommen, zumindest »um die Ecke« miteinander zu singen, sagt der Leiter. Mehr sei technisch momentan nicht möglich. Als es der Chor doch probiert, gibt es bei Bartholdys »Jauchzet dem Herrn, alle Welt« ein Durcheinander. Einige unterschiedlich laute und zeitlich versetzte Stimmen sind zu hören. Es rauscht und hallt. Gefühl für gemeinsames Musizieren kann so nicht aufkommen. »Was einfach fehlt, ist die Erfahrung von Summenklang, die den Chor ja ausmacht. Dass alle zusammenstehen, sich gegenseitig inspirieren, klanglich weiterbringen und helfen«, sagt Homburg.

»Trotzdem witzig«, findet Sänger Hannes die Proben. Bei den Chorknaben kommen die digitalen Proben insgesamt gut an. »Das motiviert viel mehr, als wenn man das alleine macht«, sagt Nicolas. Jonathan erzählt, dass es zwar ein bisschen schwierig sei, die anderen zu verstehen. Die Proben seien aber gut, um drinzubleiben und »dass die Stimme nicht so verrostet«. Georg erzählt, am Anfang sei er noch ein bisschen skeptisch gewesen. Er wolle aber das Beste draus machen. »Es ist schwierig, weil ich so jemand bin, der gern mit anderen Leuten zusammen ist. Deswegen ist es echt schwer für mich«, sagt er.

Eine echte Chorprobe kann die digitale Variante laut Homburg nicht ersetzen. Auch einen digitalen Auftritt könne er sich momentan höchstens so vorstellen, dass ein »Meister der Technik« die einzelnen Tondateien der Sänger digital übereinanderlegt, so dass am Ende der Klang eines Chors herauskommt. »Das ist denkbar. Aber nicht als Akt, den Menschen gleichzeitig ausführen«, sagt er. Das Wichtige an den Proben sei »dass man das Gefühl von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft hat. Das war bei meinem Projekt von Anfang an die Idee.« (dpa)