BERLIN. Ein seltsamer Sommer ist das - mit Alltagsmaske und Abstand, aber fast ohne Livemusik. Viele Indiepop-Künstler wären eigentlich in diesen oder den nächsten Wochen auf deutschen Bühnen zu Gast, um ihre neuen Alben vorzustellen. Ein alphabetischer Überblick über einige der interessantesten Veröffentlichungen, die wir jetzt leider nicht in den Clubs hören können.
ANOTHER SKY - I Slept On The Floor (Fiction/Caroline)
Ungewöhnliche Klangwelten zwischen Indierock und Synth-Pop erforscht diese spannende neue Band aus Großbritannien - und fast könnte man auf Vergleiche mit Zauberinnen wie Kate Bush oder Björk kommen, wären da nicht diese dunkel-androgynen Leadvocals. »Die Leute sagen, dass ich klinge wie ein Mann - vielleicht bedeutet es, dass sie zuhören werden«, sagt Sängerin Catrin Vincent hoffnungsvoll, fügt aber auch hinzu: »Ich habe mich immer gefragt, warum das eine Rolle spielt.«
Nun, zumindest erklärt diese exzentrische, auch mal in luftige Höhen entschwindende Stimme, warum derzeit ein kleiner Hype um Another Sky entsteht. Das Quartett besteht aus Vincent, dem Gitarristen Jack Gilbert, der Bassistin Naomi Le Dune und dem Schlagzeuger Max Doohan. Gilbert nennt die Textes des Debüts »so etwas wie ein Tagebuch«. Und die Sängerin ergänzt: »Es ist eine Reise von der Jugend ins junge Erwachsenenalter.« Um toxische Beziehungen und Politik geht es auch.
All das klingt jetzt erstmal nicht ganz so aufregend - aber der tolle Gesang und die gelegentlich an Talk Talk gemahnenden Songs machen aus »I Slept On The Floor« eben doch etwas Besonderes.
PHOEBE BRIDGERS - Punisher (Dead Oceans/Cargo)
Seit ihrem Erscheinen im Juni sind auf diese Platte schon etliche Kritikerhymnen geschrieben worden - und auch wenn das zweite Album der Kalifornierin den Indiepop nicht neu erfindet, so hat es doch einiges von dem zu bieten, was dieses Genre derzeit so attraktiv macht. Starke Songs, prächtige Arrangements - und eine berührende Stimme voller Verletzlichkeit und Wärme. Das war auf dem hochgelobten Debüt »Stranger In The Alps« von 2017 ähnlich (wenn auch noch nicht so ausgereift), dann auf der EP des Frauen-Trios boygenius, erst recht kürzlich bei der Koop-Platte Better Oblivion Community Center mit Conor Oberst.
Bridgers schrieb und produzierte »Punisher« zwischen Sommer 2018 und Herbst 2019, erneut arbeitete sie im Studio mit Musikerfreunden wie Christian Lee Hutson (dazu später mehr) zusammen. Wie gut vernetzt die Mittzwanzigerin ist, zeigen Gastauftritte von Indie-Legende Oberst (bei »Halloween« und im bombastischen Album-Finale »I Know The End«), Lucy Dacus, Blake Mills, Nick Zinner, Drummer Jim Keltner und Nathaniel Walcott (Bright Eyes). Die Lieder sind ruhig und besonnen - »Punisher« ist eine Balladenplatte, zunächst etwas unspektakulär, aber mit Tiefenwirkung. Und das streicherdurchwehte »Saviour Complex« vermag sogar zu Tränen zu rühren.
JOHN CRAIGIE - Asterisk The Universe (Zabriskie Point/Thirty Tigers)
Zwischen »Folk, Motown und JJ Cale« wird dieser US-Singer-Songwriter aus Kalifornien einsortiert, und das trifft es ganz gut. Denn Craigie (40) hat sich tatsächlich einiges bei Barden wie Woody Guthrie, John Prine oder Bob Dylan abgeschaut, mischt seinen süffigen Arrangements aber gern eine erdige Funk-Note bei. Und er pflegt einen ausgeruhten Folk-Blues-Stil wie der vor sieben Jahren gestorbene Gitarrist, mit dem er zwei Initialen teilt (siehe Craigies »Part Wolf« und das Cale-Cover »Crazy Mama«).
"Asterisk The Universe" ist beeits sein siebtes Studioalbum, und es sollte ihm endlich ein größeres Publikum sichern. Nach dem noch etwas spröden "Hustlin’" klingt die Platte immer selbstbewusster, spätestens beim swingenden Swamp-Soul-Track "Climb Up" kommt Stimmung auf wie in einer Südstaaten-Spelunke. "Used It All Up" ist ein kurzes Intermezzo der begleitenden Rainbow Girls im Sixties-Girlgroup-Modus, ehe ""Don't Deny" Craigie auch noch als Verehrer von The Band zeigt. Mit der famosen Mundharmonika-Folkballade "Nomads" endet eine feine Platte. Lässiger geht Retro-Chic wirklich nicht.
CHRISTIAN LEE HUTSON - Beginners (Anti-/Indigo)
Ebenfalls in den 60ern und frühen 70ern holt sich dieser Songwriter seine Inspirationen, wie Craigie lebt er in Los Angeles. Der Opener seines Label-Debüts (»Atheist«) könnte sogar glatt von einem Album der Folkpop-Ikonen Simon & Garfunkel stammen, »Talk« direkt danach ebenso. Auch später erinnern Hutsons Stimme, sein Gitarrenspiel und die Arrangements mehrfach an den großen Paul Simon. Dass dieser Musiker aber eben doch im Hier und Jetzt steht, beweist die Anwesenheit von - Phoebe Bridgers (siehe oben).
Sie hat »Beginners« nicht nur produziert, sondern singt auch herrliche Harmony- und Chor-Vocals auf insgesamt vier Tracks. Da zudem Dacus, Oberst und Walcott auf dem Album vertreten sind, könnte man fast von einem Bruder-Album zu Bridgers' »Punisher« sprechen. Genauso erlesen sind die Melodien dieser zehn Folk-Kleinode, genauso bewegend klingt Hutsons schüchterner Gesang. Etwa im zartbitteren »Unforgivable«, in »Northsiders« (mit großer Nähe zu Elliott Smith), der Streicherballade »Seven Lakes«, dem gospeligen Closer »Single For The Summer«. »Beginners« ist ein Album, das wie Balsam wirkt.
OHMME - Fantasize Your Ghost (Joyful Noise/Cargo)
Wer dies zuletzt ein bisschen zu beschaulich fand und die Gitarren rauer oder auch dreckiger bevorzugt, liegt bei Sima Cunnningham und Macie Stewart alias Ohmme aus Chicago richtig. Deren zweites Album nach dem Debüt »Parts« ist ein kurzer. intensiver Indierock-Traum mit vielen Verzerrungen, ruppigen Synthie-, Bass -und Schlagzeug-Akzenten - obendrauf dann zwei perfekte, oft extravagante Harmony-Stimmen, die den instrumentalen Wutausbrüchen etwas von ihrer Schärfe nehmen.
Dass dieses Duo - ergänzt um Drummer Matt Carroll - bereits Fans wie Jeff Tweedy (Wilco), Sam Beam (Iron & Wine) und Richard Thompson gewinnen konnte, verwundert angesichts seiner mutigen Musik nicht. Daran ändert auch das furchtbare Albumcover von »Fantasize Your Ghost« nichts. Noise-Pop trifft auf Riot-Grrrl-Punkrock und kunstvoll-schrägen Pop mit Talking-Heads-Einflüssen (»Spell It Out«) - originell ist diese Platte allemal.
OWEN - The Avalanche (Big Scary Monsters/The Orchard)
Mit seiner Emo-Postrock-Band American Football lieferte er gerade erst eines der schönsten, traurigsten Indie-Alben von 2019 ab - da ist Mike Kinsella schon wieder mit neuen Songs unterwegs. Diesmal firmiert der inzwischen 43 Jahre alte US-Amerikaner unter seinem bewährten Pseudonym Owen - aber die Lieder sind nicht weniger erhebend. »Trotz der langen Liste an Beiträgen in wegweisenden Bands enthüllt er doch nie mehr von seiner inneren Welt als mit den sanften Songs seines langjährigen Soloprojektes Owen«, erklärt sein Label.
Und recht hat es: »The Avalanche« ist tatsächlich ein Meisterstück innerer Einkehr und berückender Intimität. Dafür traf sich der Sänger und Gitarrist Kinsella erneut mit Produzent Sean Carey (Bon Iver) und Soundingenieur Zach Hanson (The Tallest Man On Earth, Waxahatchee). Man zog sich in das Hive Studio von Eau Claire/Wisconsin zurück, wo auch der seelenverwandte Singer-Songwriter Justin Vernon gern kreative Kraft schöpft. Texte über eine zerbrechende Ehe und andere schwere Themen des Lebens schweben über feinsten Melodien voller Gitarren-, Klavier- und Streicher-Grandezza. Und wie Kinsella diese gedämpften Lyrics singt - das erinnert an die große Indiepop-Kunst eines Sufjan Stevens oder Ben Gibbard (Death Cab For Cutie).
MIKE POLIZZE - Long Lost Solace Find (Paradise Of Bachelors/Cargo)
Indiefolk-Gitarren-Musik in vielen Farben, Formen und Facetten, dazu eine lässige Slacker-Stimme - das bietet diese hübsche Soloplatte des Frontmanns der Band Purling Hiss. Ein sehr entspannendes Vergnügen ist das, manche Melodien und Performance wirken durchaus ein bisschen hippiesk-psychedelisch, um nicht zu sagen: bekifft. Wer jetzt sagt, das höre sich doch an wie bei Ober-Indie-Slacker Kurt Vile, der liegt ziemlich richtig: Vile ist ein langjähriger Kumpel von Polizze, die beiden haben auf »Long Lost Solace Find« eng kollaboriert.
Aufgenommen wurde die Platte bei Jeff Zeigler, dem Toningenieur der gleichfalls zum Vile-Umfeld gehörenden Band The War On Drugs. Die vom neuen Philadelphia-Sound geprägten Polizze-Songs heben die Folkrock-Welt zwar nicht aus den Angeln, dazu sind sie auch etwas zu gleichförmig - aber es kommt ein angenehmer Spätsommer-Vibe auf, wenn man Lieder wie »Cheewawa« oder »Do Do Do« hört. Vile, ganz der gute Freund, betont: »Ich liebe diese Musik so sehr. Das ist definitiv meine Lieblings-Sommerplatte. Ich fühle mich geehrt, dass ich auf fünf Stücken drauf bin. Mike Polizze ist Phillys Gitarrengott!«
LIAN RAY - Rose (Snowstar Records)
Wenn Polizze ein Spätsommer-Album gemacht hat, dann ist diese Platte des Franzosen Lian Ray schon eine für den Herbst. Die Melodien der bereits 2012/13 aufgenommenen, erst jetzt veröffentlichten Lieder sind von so viel Wehmut durchtränkt, dass man sie eher an dunkel-verhangenen Tage hören mag. Aber dann wirken sie garantiert, denn »Rose« ist ein zauberhaftes Album. Wer etwas mit den melancholischen Werken der amerikanisch-britischen Band Sophia, der irischen Villagers oder des israelischen Singer-Songwriters Oren Lavie anfangen kann, wird Rays fast verloren gegangene Musik lieben.
Der Sänger, in den 90er Jahren Frontmann der Alternativ-Rock-Band Rhesus, verarbeitete auf »Rose« eine kurze, zerstörerische »Amour fou« in Berlin. Rose war schnell wieder weg, diente Ray aber immerhin noch als Inspirationsquelle für zehn düster-romantische Lieder, in denen auch Drogen eine Rolle spielen. Fast wäre diese schmerzhaft-schöne Balladensammlung in der Versenkung verschwunden - da griff das Label Snowstar Records doch noch zu. Zum Glück für Indiepop-Hörer mit einem Faible für Herbstmusik. (dpa)