BERLIN. Die Kussszene ist wohl das beliebteste Beispiel, um das Dilemma für Drehbuchautoren, Produzenten und Fernsehsender in Deutschland zu beschreiben. Ein harmloser Kuss im Drehbuch wird in der Corona-Pandemie mit Abstandsregeln zum Problem. Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Sendern und Produzenten ergab, dass viele Drehbücher verändert werden, damit Filmprojekte mit Vorsichtsregeln doch umgesetzt werden können.
Die Bereichsleiterin Fiction bei der Mediengruppe RTL, Frauke Neeb, bringt die Situation auf den Punkt: »Gemeinsam mit den Produzenten, Autoren und Regisseuren prüfen wir im Prinzip Szene für Szene, wie das Format unter den besonderen Bedingungen bestmöglich umgesetzt werden kann, ohne dass es seinen erzählerischen Kern und seine Kraft verliert.« Bestimmte Handlungen, Sequenzen oder Erzählstränge müssten aber auch ersetzt oder überarbeitet werden, wenn sie unter den gebotenen Vorschriften nicht vernünftig realisiert werden können.
Der stellvertretende Vorsitzende der Produzentenallianz, Uli Aselmann, geht mit Blick auf die Set-Hygienestandards hiervon aus: »Intime Szenen, etwa eine Kussszene, ist durch den neuen Arbeitsschutzstandard dann möglich, wenn die betroffenen Personen vorab in Quarantäne gehen und regelmäßig getestet werden. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass solche Szenen in nächster Zeit deutlich weniger oft gedreht werden, als vor der Pandemie.«
Eine Übersicht an Kniffen, um während Corona weiterdrehen zu können:
- WENIGER FIGUREN IN SZENEN, MEHR ABSTAND
Für den Dreh der zweiten Staffel »WaPo Berlin« gibt es laut Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) Rollenreduzierungen in einzelnen Szenen, zum Beispiel »nur eine Ermittlerin im Verhörraum, die andere hinter dem venezianischen Spiegel, Handlungsabläufe wie Festnahmen oder Autofahrten werden umgestellt, beziehungsweise nur angedeutet, um die Abstandregeln zu gewährleisten«.
Für die ZDF-Serie »Rosenheim-Cops« hat die Produktionsfirma Bavaria Fiction den Vernehmungsraum vergrößert - um Mindestabstände einhalten zu können.
Bei der Krankenhausserie »In aller Freundschaft« wird auf Szenen mit enger, körperlicher Nähe verzichtet, wie es vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) heißt. Auch bei der Familienserie »Dahoam is Dahoam« des Bayerischen Rundfunks (BR) wurden in den Drehbüchern zum Beispiel Gruppenszenen oder Szenen mit körperlicher Nähe aufgelöst und die Anzahl der Darsteller vorerst reduziert.
- RAUS RAUS RAUS, ANDERE DREHORTE und SZENEN
Innenmotive werden nach draußen verlagert. Beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) werden zudem für den »Tatort« Aufnahmen auf großen öffentlichen Plätzen gemieden und gegen Orte ohne viel Publikumsverkehr getauscht.
Beim Saarbrücker »Tatort« (Arbeitstitel: »Der Herr des Waldes«) geht es um eine Schulstunde. »Wir drehen zum Beispiel eine Schulstunde in einer Klasse mit Befragung durch die Kommissare. Im Augenblick denken wir darüber nach, die Szene nach draußen zu verlegen. Dies ist aber noch nicht abschließend entschieden«, teilt der Saarländische Rundfunk (SR) mit.
Der Vorsitzende der Geschäftsführung Studio Hamburg Production Group GmbH, Michael Lehmann, erwähnt ein Beispiel, wie das Drehbuch für die ZDF-Serie »Notruf Hafenkante« angepasst wird: »Wir hatten eine Szene geplant, bei der zwei Menschen bei einer Verfolgungsjagd einen Unfall haben und im Hafen in die Elbe ins Wasser fallen. Geplant war, dass die Wasserpolizei kommt und sie rausfischt. Das haben wir jetzt gestrichen.« Stattdessen werde der Schritt übergangen und die Rettung indirekt gezeigt, indem die zwei mit Wärmetüchern zu sehen sind.
- GLASSCHEIBE, MUNDSCHUTZ, KAMERA-EINSTELLUNGEN
Nach RTL-Angaben kann eine Glasscheibe auf engem Raum eine Lösung sein. Die Glasscheibe werde später bei der Postproduktion wegretuschiert.
Und Mundschutz ist am Set ein Thema. Der Regisseur und Autor Lars Becker, der die ZDF-Krimireihe »Nachtschicht« verantwortet, beschreibt den Kniff einer Drehszene mit zwei Polizeikollegen in einem Auto: »Ich muss dann die Einstellungen so raffiniert drehen, dass einer Mundschutz trägt, ohne dass man das sieht und dann im Wechsel der andere den Mundschutz trägt, ohne dass man das sieht.«
Vom MDR heißt es zur Serie »In aller Freundschaft«: »Vor und hinter der Kamera herrscht Maskenpflicht. Die Drehbuchbesprechungen finden ebenfalls mit Masken statt. Erst unmittelbar zum Dreh ihrer Szene dürfen die Schauspielerinnen und Schauspieler die Maske absetzen, müssen dann aber auf den Mindestabstand achten.«
Beim aktuellen Dreh des »Münster«-Tatorts waren die Schauspieler Axel Prahl und Jan-Josef Liefers ebenfalls mit Masken am Set zu sehen. Prahl sagte der dpa: »Es ist für mich eine große Freude, dass es endlich wieder losgeht. Es gibt natürlich vieles, das man berücksichtigen muss. Das Drehen ist daher etwas anders.«
- ALTERNATIVEN
Nicht immer reichen solche Hilfsmittel aus - was Folgen nach sich zieht. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) zählt die nächste »Tatort«-Produktion mit Maria Furtwängler und Florence Kasumba - also des Göttingen-Ermittlerteams - auf: »Das ursprünglich vorgesehene Drehbuch kann wegen der Corona-Auflagen nicht umgesetzt werden – hier sind für die Handlung zum Beispiel sehr viele Ensemble-Szenen und Szenen mit direktem Kontakt notwendig. Daher starten die Dreharbeiten - voraussichtlich im August - mit einer komplett neu geschriebenen Vorlage«, heißt es vom Sender. Das ursprüngliche Drehbuch solle weiterentwickelt und später umgesetzt werden.
Von Radio Bremen heißt es, dass etwa bei der Reportagereihe »Rabiat« für das Erste auf anderes Drehmaterial zurückgegriffen werden musste, »weil geplante Dreharbeiten nicht in dem Umfang oder gar nicht stattfinden konnten«.
Der Hessische Rundfunk verzichtet in diesem Jahr auf den Dreh seines Mittwochfilms »Seitenwege« - eine Reiseproduktion durch die Weinberge des Rheingaus. Stattdessen werde ein Drehbuch für ein Kammerspiel erarbeitet, das dann zu der Zeit umgesetzt werden soll, in der eigentlich der Dreh von »Seitenwege« geplant war.
Uli Aselmann von der Produzentenallianz sagt über die jetzige Situation: »Ob die aktuellen Regelungen beispielsweise die Produktion eines «normalen» Liebesfilms möglich machen, muss sich erst noch zeigen. Die Sorge vieler Filmschaffender ist groß, dass im Rahmen des neuen Arbeitsschutzstandards Nähe vor der Kamera nur schwierig darstellbar ist und eine Art von «Corona-Filmen» entsteht, die weder dem eigenen künstlerischen Ansprüchen genügt noch das Publikum überzeugt.« (dpa)