RIO DE JANEIRO. Nur eine Kurve trennt die Villen von Gávea und die unverputzten Häuser der Rocinha. Als Bernhard Weber in den Parkplatz in der Favela, mit 70.000 Einwohnern eines der größten Armenviertel Brasiliens, einbiegt, hat sich davor schon eine Schlange gebildet.
40 Pakete hat Weber in Zusammenarbeit mit dem früheren Fußball-Nationalspieler Kevin Kuranyi am Vormittag bereits in der Favela Pereira da Silva verteilt. »Jetzt sind die zweiten 40 in der Rocinha dran«, sagt Weber. So viele Plastiktaschen, gefüllt mit Öl, Zucker, Salz, Kaffee, Spaghetti, Tomatensoße, Sardinen, Reis und Bohnen, aber auch Seife und Spülmittel passen in sein Auto.
»Die Idee ist entstanden, als mich mein Kumpel Bernhard anrief und fragte, ob ich mit ihm etwas starten will in der Corona-Krise«, sagt Kuranyi der Deutschen Presse-Agentur. Weber hat selbst neun Jahre in verschiedenen Favelas in Rio de Janeiro gewohnt, unter anderem in der Pereira da Silva und der Rocinha. Der blonde Schwabe macht Funk-Musik, ist Touristenführer und als »Gringo de Janeiro« - der Schriftzug prangt auf seinem leuchtend grünen T-Shirt - eine Marke in Rio.
Und er ist ein Freund von Kuranyi, mit dem er nach einem direkten Weg gesucht hat, wie sie in den Favelas, die von Covid-19-Pandemie besonders betroffen sind, helfen kann. So sind sie auf die Grundversorgungspakete gekommen, denn oftmals fehlt es den Bewohnern am Nötigsten. Zugleich leben sie auf engstem Raum zusammen.
Kuranyi sagte schnell zu, wie sein Kumpel Bernhard erzählt: »Kevin macht immer wieder Sachen, bei denen man sagt: Das ist einfach der beste Junge, einer von uns.« Der Ex-Profi des VfB Stuttgart und von Schalke 04 wurde in Rio de Janeiro geboren und wuchs in Petrópolis auf. Er hilft dort, wo er herkommt. »Ich habe Freunde, die selbst in der Favela leben. Sie erzählen mir immer wieder, wie schwer die Situation ist«, sagt Kuranyi. »Weil sie nicht arbeiten dürfen und zuhause bleiben müssen, wird es eng für viele von denen.«
Kuranyi hat die erste Spende für eine Woche Versorgung mit den Paketen geleistet, dann folgten andere, Freunde von ihm und Kunden von Weber, inzwischen geht die Aktion in die vierte Woche. »Das Wichtigste ist, dass die Pakete gut ankommen«, sagt Weber. »Es gibt so viel Diebstahl und Betrug, da muss man hart bleiben.« In der Pereira da Silva hätten selbst Drogenhändler, die die Favela kontrollieren, Pakete haben wollen. Deshalb hat er mit Vertrauenspersonen geplant, wie die Verteilung laufen soll. Sie haben Bewohner ausgesucht, die die Hilfe am nötigsten brauchen.
In Brasilien haben sich nach den jüngsten Zahlen des Gesundheitsministeriums in Brasília bislang mehr als 50.000 Menschen nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert, weit mehr als 3000 Patienten sind im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Nachdem das Coronavirus inzwischen in den Favelas von Rio angekommen ist, sind unter den Bedürftigen Infizierte, die das Haus auf Anweisung der Drogenhändler nicht verlassen können. Noch während Bernhard mit dem Helfer Marlon die Plastiktaschen aus dem Auto packt, kommt eine Frau und fragt, ob es sich um eine Spendenaktion handelt. Marlon erklärt ihr, dass er die Empfänger schon davor ausgesucht habe und bittet sie, zu warten. Die Wartenden aus der Schlange drängeln, Bernhard und Marlon, mit Atemmaske und Handschuhen ausgestattet, haben Mühe, den Ansturm zu bewältigen.
»Einer nach dem anderen«, sagt Bernhard und versucht, Abstand zu wahren, während er die Pakete reicht. »Das ist ein Segen«, sagt Yilda da Silva, die vier Kinder und sieben Enkelkinder hat, als sie ihr Paket in Händen hält. »Die Situation ist sehr schwierig, weil ich zu Hause bleiben muss und nicht arbeiten gehen kann.« Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro verharmlost das Coronavirus und fordert eine Rückkehr zur Normalität. Im Streit über den Umgang mit der Covid-19-Pandemie hat er zuletzt seinen Gesundheitsminister entlassen. Dagegen haben die Gouverneure der Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro das öffentliche Leben eingeschränkt. Dabei gehen 40 Prozent der Brasilianer einer informellen Arbeit nach, ohne Vertrag oder Absicherung.
Yilda hatte einen kleinen Stand, an dem sie Kaffee verkauft hat. »Aber wie soll es keine Ansteckung geben, wenn wir alle in einem kleinen Haus zusammen wohnen? Das ist unmöglich«, sagt sie. Als schon fast alle Pakete verteilt sind, kommen noch einmal viele Bewohner der Rocinha dazu. Bernhard und Marlon erklären ihnen schweren Herzens, dass es nicht für alle reicht. »Das tut weh«, sagt Weber. »Das ist so eine verzweifelte Situation, wie sie Deutschland nicht kennt. Die Leute sterben wirklich an Hunger.« Das Ziel von Weber und Kuranyi ist es, so zu wachsen, dass sie noch mehr Menschen helfen können, aber dabei die persönliche Struktur vor Ort aufrechterhalten. Kuranyi sagt: »Ich würde mich mega freuen, wenn da noch viele mitmachen würden. Jeder Beitrag hilft - besonders auch den Kindern dort.« (dpa)