NIZZA. Es ist eine bizarre Szenerie. Auf der Promenade des Anglais von Nizza ist Gelb die vorherrschende Farbe. Das nicht ganz so billige Pflaster an der Côte d'Azur steht bereits im Zeichen der 107. Tour de France, die sich in großen Plakaten ankündigt und am Samstag losrollen will.
Auf den Straßen tragen die Menschen indes Schutzmasken, die in Nizza seit geraumer Zeit Pflicht sind. So sieht es aus, wenn eine Frankreich-Rundfahrt in einem Corona-Risikogebiet beginnt.
Es wird eine Reise ins Ungewisse. Ob die Tour tatsächlich nach 3484,2 Kilometern die Hauptstadt Paris - für die es laut Robert-Koch-Institut übrigens auch eine Reisewarnung gibt - erreichen wird, ist mehr als fraglich. »Das schwebt wie ein Damoklesschwert über uns, dass jeder Tag der letzte sein kann«, sagt der viermalige Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin im dpa-Interview.
Dem Routinier, der zum zwölften Mal beim Grand Départ dabei ist, sind die steigenden Infektionszahlen nicht entgangen. Kurz vor dem Start wurde ein Höchstwert von der französischen Gesundheitsbehörde registriert. Mehr als 5000 Neuinfektionen an einem Tag. Und doch sollen Zuschauer - wenn auch limitiert - am Straßenrand stehen dürfen, was Martin nicht verstehen kann. »Die Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag«, gibt der Radprofi zu bedenken und fügt hinzu: »Lieber eine Tour ohne Zuschauer als gar keine Tour.«
Aber die Tour ist französisches Nationalheiligtum. Und da gehört das Publikum nun einmal dazu. »Eine Tour hinter verschlossenen Türen macht keinen Sinn«, sagt Tour-Chef Christian Prudhomme. Doch macht eine Tour in Krisenzeiten überhaupt Sinn? Für Experten wie Pharmakologe Fritz Sörgel ein unverantwortliches Unterfangen, für die arg gebeutelten Radteams indes eine fast schon existenzielle Notwendigkeit. 70 Prozent des Jahresetats werden durch die Tour generiert.
Dafür nehmen die Mannschaften auch ein striktes Corona-Maßnahmenkonzept auf sich. In einer eigenen Blase werden die Fahrer und ihre unmittelbare Entourage von der »Außenwelt« abgeschottet, müssen quasi außerhalb des Rennens überall Masken tragen und sich zweimal vor der Tour sowie an den Ruhetagen Corona-Tests unterziehen. Knifflig wird es, wenn innerhalb einer Woche in einem Team zwei Kontrollen positiv sind. Dann soll der ganze Rennstall ausgeschlossen werden.
Rad-Manager Ralph Denk vom deutschen Team Bora-hansgrohe befürchtet ein Chaos und bezweifelt die Zuverlässigkeit der PCR-Tests an. »Ich habe nicht nur Bauchschmerzen, bei mir geht es inzwischen in Richtung Magengeschwür«, sagte Denk der dpa und verweist auf einen Fall in seinem Team, wo ein Fahrer vor dem Eintagesrennen Bretagne Classic positiv und zwei Tage später negativ getestet wurde.
Neben der ganzen Testerei - die Dopingkontrolleure kommen natürlich auch vorbei - soll in die Pedale getreten werden. Aus deutscher Sicht hegt der Vorjahresvierte Emanuel Buchmann den Traum vom Podium, wenngleich ihn ein Sturz bei der Dauphiné-Rundfahrt zurückgeworfen hat. »Es ist viel möglich, aber es muss alles passen, besonders in der Vorbereitung. Das ist uns leider nicht aufgegangen«, sagt Buchmann.
Passt doch alles zusammen, kann er vielleicht in den erwarteten Zweikampf zwischen Vorjahressieger Egan Bernal und Vuelta-Champion Primoz Roglic eingreifen. Der Kolumbianer ist im Vorjahr mit 22 Jahren und 196 Tagen zum jüngsten Toursieger seit 1909 aufgestiegen. Vor der Tour gewann er den teaminternen Machtkampf mit den Ex-Siegern Chris Froome und Geraint Thomas, die erst gar nicht im Aufgebot stehen.
Gegen Roglic konnte er sich in dieser Saison aber nicht durchsetzen. Der Ex-Skispringer ist bislang der Überflieger der Saison, aber auch er blieb nicht vom Sturzpech verschont. »Ich bin bereit«, sagte der Slowene, der für Teamkollege Martin »ganz klar« der Favorit ist. Wenn nicht, könnte die Stunde von Thibaut Pinot schlagen. Für den Franzosen wäre im vergangenen Jahr der Tour-Sieg schon drin gewesen, hätte ihn ein Muskelfaserriss im Oberschenkel nicht zur Aufgabe gezwungen. Klappt es diesmal mit dem ersten französischen Sieg seit Bernard Hinault vor 35 Jahren?
Insgesamt zwölf deutsche Fahrer nehmen das Abenteuer auf sich. Darunter auch Ex-Meister Maximilian Schachmann trotz eines Schlüsselbeinbruchs, den er sich vor gut zwei Wochen bei einem Sturz zugezogen hat. In Sachen Stürze rechnet der Berliner bei der Tour mit »einem Gemetzel«, wie er der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sagte.
Die Strecke kommt den Bergspezialisten entgegen. Schon am zweiten Tag geht es ins Hochgebirge. Danach warten noch vier Bergankünfte auf die Fahrer. Die Entscheidung dürfte am vorletzten Tag beim Bergzeitfahren in La Planche des Belles Filles fallen. Bis dahin muss die Tour das Coronavirus als unsichtbaren Gegner aber erst mal abschütteln. (dpa)