DOHA. Als Marokkos Elfmeter-Held Bono am späten Dienstagabend seine ersten Interviews gab, hatte er gerade die Jubelbilder aus der Heimat gesehen. Zehntausende feiernde Marokkaner auf den Straßen des Landes, in den Bars der großen Städte, im Stadion von Raja Casablanca.
Der 31 Jahre alte Torwart hatte nach seinen beiden gehaltenen Elfmetern gegen Spanien selbst schon weinend auf dem Rasen gelegen und war von seinen Teamkollegen im Kollektiv in die Luft geworden worden. Doch in diesem Moment war der Keeper, der im Hauptberuf ausgerechnet für den spanischen Club FC Sevilla spielt, noch einmal besonders ergriffen. »Wir sind sehr glücklich. Wir müssen jetzt weiter fokussiert bleiben. Aber um das zu realisieren, was wir hier gerade erreicht haben, werden wir noch viel, viel Zeit brauchen«, sagte er.
Nach einem 3:0 im Elfmeterschießen gegen Spanien steht die große WM-Überraschung Marokko zum ersten Mal im Viertelfinale einer Fußball-Weltmeisterschaft. Das schafften vor diesem Team überhaupt nur drei andere afrikanische Länder: Ghana 2010, Senegal 2002 und Kamerun 1990.
Doch die Marokkaner sind in Katar auch nach vier Spiele noch unbesiegt, sie ließen in der Vorrunde bereits den WM-Zweiten Kroatien und den WM-Dritten Belgien hinter sich und sie kassierten gegen den ehemaligen Weltmeister Spanien einen ganzen Abend lang keinen einzigen Treffer. Weder in 120 hochspannenden aber torlosen Minuten. Noch in dem danach fälligen Elfmeterschießen. Den ersten Versuch setzte Pablo Sarabia von Paris Saint-Germain nur an den Pfosten. Danach hielt Bono die Schüsse von Carlos Soler und Sergio Busquets.
»Ich würde alle Schützen noch einmal so auswählen. Den Einzigen, den ich wechseln würde, wäre Bono, den Torwart des Gegners«, sagte der spanische Trainer Luis Enrique, ein besonders fairer und respektvoller Verlierer, hinterher.
Das Besondere an diesem WM-Thriller im Education-City-Stadion von Doha war, dass die Spanier die entscheidenden gegnerischen Spieler quasi selbst ausgebildet haben. Achraf Hakimi, der selbstbewusste Schütze des lässigen letzten marokkanischen Elfmeters, wurde in Madrid geboren und spielte von seinem 8. bis zum 20. Lebensjahr für Real. Der ehemalige Dortmunder und heutige PSG-Spieler hätte auch für die spanischen Nachwuchsnationalmannschaften auflaufen können, doch der 24 Jahre Weltklasse-Verteidiger sagte in Katar noch einmal: »Ich wollte immer nur für Marokko spielen.«
Auch Yassine Bounou, der nur mit Künstlernamen Bono heißt, hat eine sehr spezielle Vita. Geboren in Kanada und aufgewachsen in Marokko, holte Atletico Madrid den 1,90 Meter großen Torwart vor zehn Jahren für seine zweite Mannschaft nach Spanien. Über Real Saragossa und den FC Girona wechselte er 2019 nach Sevilla - und wird sich dort nach seiner Rückkehr nun wohl einiges anhören müssen.
»Vor diesem Turnier hatten wir immer große Probleme zwischen den Spielern, die in Marokko geboren wurden und den Spielern, die im Ausland aufgewachsen sind. Auch ihr Journalisten habt doch immer gefragt: Warum lasst ihr die spielen oder die?«, sagte Trainer Walid Regragui am Dienstagabend nach dem großen Triumph. »Jetzt haben wir gezeigt: Jeder Marokkaner ist ein Marokkaner. Wir gehören alle zusammen. Ich habe eine außergewöhnliche Gruppe von Spielern. Wir haben aus einem Team eine Familie gemacht.«
Der 47 Jahre alte Regragui übernahm das marokkanische Team erst zweieinhalb Monate vor dem ersten WM-Spiel von seinem gefeuerten Vorgänger Vahid Halilhodzic. Er formte daraus eine Einheit mit gleich mehreren Erfolgsfaktoren: ihrer taktischen Disziplin, der individuellen Klasse von Topspielern wie Bono, Hakimi oder dem Bayern-Profi Noussair Mazraoui - und auch der massiven Unterstützung von bis zu 30 000 marokkanischen Fans pro WM-Spiel in Katar. Jetzt ist Regragui der erste afrikanische Trainer, der je das WM-Viertelfinale erreicht hat. (dpa)