REUTLINGEN. Der kicker – ein für alle Mal an dieser Stelle vorneweg, der Titel des Fußballmagazins schreibt sich klein – feiert in diesem Jahr seinen Hundertsten. Das deutsche Sportmagazin mit dem Schwerpunkt Fußball hat in seiner wechselvollen Geschichte also schon einiges mitgemacht. Doch eine Situation wie die aktuelle in der Corona-Krise ist auch für die Nürnberger Macher neu. Aber wie alle Herausforderungen vorher wird auch diese angenommen, da macht es auch nichts, dass die Feierlichkeiten zum großen Jubiläum erst mal hintanstehen müssen. »Wir produzieren weiter, wechseln zwischen Home-Office und Redaktion, die Dinge sind, wie sie sind. Natürlich hoffen wir, dass die Corona-Phase möglichst schnell vorbei ist«, sagt Jörg Jakob, seit 2014 Gesamtleiter der Chefredaktion, im Gespräch mit dem Reutlinger General-Anzeiger.
Der kicker steht auch nach 100 Jahren für Walther Bensemann. Am 14. Juli 1920 ist das von ihm in Konstanz gegründete Magazin erstmals erschienen. Seitdem gab es den Zweiten Weltkrieg, mehrere Umzüge, Fusionen und andere Neuerungen. Seit etwas mehr als 50 Jahren erscheint der kicker zweimal in der Woche, am Montag und am Donnerstag. Jeder, wirklich jeder, der an dieser Sportart interessiert ist, wartet an diesen Tagen auf das Heft, das war und ist so. Und ist in 100 Jahren immer verlässlich geblieben, eine der festen Größen im deutschen Fußball. Immer verlässlich, nie auf die knallende Schlagzeile aus, der kicker beschriebt die Dinge im Fußball, wie sie sind. Es geht zwar ohne kicker, aber nicht wirklich. Das war stets das Ziel von Walther Bensemann.
»Wir berichten über alle neuen Lagen, recherchieren umgehend alle Reaktionen«
Rückblick. 1873 als Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie in Berlin geboren, war Bensemann einer der wichtigsten Fußball-Pioniere in Deutschland. Die Sportart wurde im Deutschen Reich als »englische Modetorheit« und »Fußlümmelei« verspottet, Bensemann sah in dem Spiel aus England dagegen immer auch eine »pazifistische Idee« und ein Mittel der Völkerverständigung. Bensemann gründete den Karlsruher FV, 1910 deutscher Meister, die Frankfurter Kickers als Vorläufer der Eintracht und den MTV München als Vorgänger des FC Bayern. Daneben verstand sich Bensemann als Publizist. Ehe er den kicker gründete, trat er in die Redaktion des Fußball ein, seit 1911 von Eugen Seybold in Berlin herausgegeben. Bensemanns letzte Glosse erschien im kicker am 28. März 1933, ehe die großen süddeutschen Vereine in voreilendem Gehorsam versicherten, die Maßnahmen der Nationalsozialisten »mit allen Kräften mitzutragen«, insbesondere »in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen«. Bensemanns Nachfolger als kicker-Chefredakteur, Hanns Jakob Müllenbach, teilte am 30. Mai lediglich mit, Bensemann sei aus der Redaktion ausgeschieden. Der kicker-Gründer reiste »auf Befehl der Ärzte« zum Kuraufenthalt nach Montreux. Dort starb er am 12. November.
Status quo. Die Frage, jede Woche wieder professionell beantwortet, was macht ein Sportmagazin, wenn weltweit kein Sport mehr stattfindet? Jakob bringt das nicht aus dem Gleichgewicht. »Wir haben bereits vor vier Wochen begonnen, unsere Abläufe umzustellen, sukzessive Home-Offices eingerichtet. Und zwar in allen Bereichen des Verlags. Für die Reporter im Bundesgebiet und die Korrespondenten im Ausland ist die mobile Arbeitsweise nicht gewöhnungsbedürftig. Insgesamt ist der Modus natürlich eine völlig neue Erfahrung. Doch das hat sich sehr schnell eingespielt«, sagt Jakob.
Auch inhaltlich musste natürlich eine Umstellung stattfinden: »Wir berichten über alle neuen Lagen, recherchieren dazu umgehend die Reaktionen von den Spitzenkräften des Sports. Gleichzeitig kommen auch Experten aus Politik, Recht, Wirtschaft, Medizin und Sportwissenschaft zu Wort«, erzählt der 56 Jahre alte Chefredakteur.
»Wir wollen unseren Lesern in den Magazinen und digital Informationen und Hintergründe liefern«
Das »Kerngeschäft« soll dabei aber nicht auf der Strecke bleiben. »Wir wollen unseren Lesern in den Printmagazinen wie auch auf unseren digitalen Kanälen weiterhin viele Informationen, Hintergründe und Einordnungen über Stars und Clubs bieten.« So biete die aktuelle Situation sogar eine Chance. »Es gibt so Möglichkeiten, ganz neue Formate, auch unterhaltende, auszuprobieren, für die sonst keine Zeit und kein Platz ist«, sagt Jakob.
Die Mitarbeiter des kicker haben viel mit den Entscheidungsträgern, vor allem im Fußball, zu tun. Dort hätten alle begriffen, dass es eine Krise globalen Ausmaßes sei und die weitere Ausbreitung des Coronavirus verhindert werden müsse. »Gleichzeitig sind zwei Erkenntnisse gereift, wie sehr die Existenzen von Clubs und damit Zigtausenden von Mitarbeitern bedroht sind und welch große Verantwortung der Fußball als gesellschaftlich verbindendes Element hat«, betont Jakob. In Nürnberg haben sie die Dinge des Fußballs im Griff.
Wirtschaftlich bildet der kicker in der Krise natürlich keine Ausnahme, in allen Branchen machen sich die Einbußen bemerkbar. Das Anzeigenaufkommen ist reduziert, auch beim Verkauf am Kiosk gibt es aktuell Verluste. Anders sieht es bei den Abonnements aus. »Wir können erfreulicherweise feststellen, wie sehr eine verlässliche und glaubwürdige Marke wie der kicker auf Leser-Blatt-Bindung zählen kann«, sagt Jakob. Diese Bindung muss man sich erarbeiten, das haben die kicker-Leute immer getan. Keine Frage, dass auch große journalistische Karrieren in diesem Magazin ihren Ausgang genommen haben.
Aber was die Kollegenschaft verbindet, und das ist gerade in Krisenzeiten unerlässlich, ist der Korpsgeist. Für den kicker zu arbeiten, ist Verpflichtung, Corona hin oder her. Jakob und seine Kollegen haben mit »Zeitenwechsel« bereits einen wunderschönen Jubiläumsband auf den Markt gebracht, ein Kaleidoskop aus hundert Jahren Fußball, ein Bildband, den man immer wieder in die Hand nehmen kann. Jakob weist in aller Bescheidenheit in seinem Vorwort darauf hin, dass die Idee zu diesem Buch aus England stammt. »Game of two Halves« (Spiel der zwei Halbzeiten), 2003 bei Carlton Books verlegt, 2010 erschien die Neuauflage unter dem Titel »Football Yesterday & Today« (Fußball gestern und heute). 2010 war der kicker 90 Jahre jung.
Dass Jakob nach England schaut, liegt in der Tradition des Sports, seines Magazins und insbesondere seines Gründers Walther Bensemann. Auch der brachte das Spiel nach dem Blick auf die Insel ins Bewusstsein und auf die Plätze. Bensemann legte am 14. Juli 1920 die erste Ausgabe vor. Die kicker-Redaktion wird zu diesem Datum auch die Jubiläumsausgabe präsentieren. Ganz Fußball-Deutschland ist gespannt. Weiß auch Jakob.
Einen digitalen Kanal zur Geschichte des Magazins und des Fußballs haben die Nürnberger bereits geschaffen und arbeiten an der Jubiläums-Printausgabe. Nur die großen Festakte müssen warten. Möglicherweise wird erst ein Jahr später der Champus gereicht. Vielleicht bei der Europameisterschaft oder den Olympischen Spielen. Die sind ja auch um ein Jahr verschoben worden. Auch das hält der Chefredakteur für »eine nachvollziehbare und richtige Entscheidung«. (GEA)
Quellen: Havemann, Eggers, Kirn