REUTLINGEN. »Baby tell me does she love you like the way I love you« singt Lisanne Franz mit tiefer Stimme, während sie sich auf der Gitarre zu Melissa Etheridges »Like the way I do« begleitet. Sie steht in der Wilhelmstraße vor der Müller Galerie. Passanten bleiben stehen, bewegen sich zur Musik. Sie legen Münzen auf die Gitarrenhülle, die hinter ihr liegt. Sie recken den Daumen nach oben oder gehen mit einem Lächeln an ihr vorbei. »Sie hat ihre Berufung gefunden«, sagt ihre Mutter Tanja Franz stolz. Neben Lisanne steht ein Notenständer mit einem gelben Plakat. »Tag der Straßenmusik« steht darauf. Zwei Stunden haben sie und weitere Schüler der Musikschule Reutlingen (MSRT) am Samstag an verschiedenen Plätzen in der Innenstadt musiziert.
»Das erinnert mich an alte Zeiten«, sagt Asita Djavadi, die in jungen Jahren ebenfalls Straßenmusik gemacht hat. Sie forderte die stehen gebliebenen Passanten auf mitzuklatschen und mit Isabel da Silva und Marvin Brenner an der Nikolaikirche »Havana, ooh na-na« mitzusingen. Anders als in einem Konzert auf der Bühne begegnen die Schüler offen einem unvorbereiteten Publikum und müssen deren Interesse wecken, erzählt die Dozentin für Gesang an der MSRT in der Pause. »Sie lernen zu improvisieren, mit ungewohnten Situationen umzugehen und ganz fokussiert in der Musik zu bleiben«, erklärt sie.
Und sie haben überhaupt die Möglichkeit wieder aufzutreten. »Es ist unglaublich zu sehen, wie die Leute reagieren«, sagt Lisanne, die bei Djavadi Gesangsunterricht nimmt. Das Gitarrespielen hat sie sich alleine beigebracht, lernt von anderen an den Saiten und mit Youtube-Videos. Seit anderthalb Jahren spielt sie immer wieder auf der Straße. »Es ist ein kompletter Unterschied«, sagt die 19-Jährige, die gemeinsam mit Djavadi nun an der Nikolaikirche die Passanten am Markttag mit guter Laune und Musik begleitet.
Der Einzelunterricht an der Musikschule findet seit geraumer Zeit wieder statt, was mit einem großen Aufwand verbunden ist. Raumprobleme gibt es, da beispielsweise in den Schulen nicht geprobt werden darf, erzählt Erika Geringer-Nilius, Leiterin des Fachbereichs Klavier. Die Ensembles dürfen noch immer nicht zusammen üben. Auftreten ist momentan ebenso unmöglich. Daher hat die Musikschule ihre Schüler dazu eingeladen, in der Innenstadt zu spielen und die Live-Musik auf diese Weise zu den Menschen zu bringen.
»Die Menschen bleiben gerne stehen, können sich über die Musikschule informieren und sehen, dass wir noch da sind.« Wir, das sind das Cello- und Querflöten-Quintett, Geigen- und Klarinetten-Trio, Gitarren- und Trompetenduo sowie Sänger und Klavierspieler. An diesem Tag spielt Viktoria Neoh das erste Mal unter freiem Himmel auf der Straße. Zuerst am Lindenbrunnen, dann ziehen sie und die anderen Musikschüler zur Marienkirche. »Es macht Spaß, für mich hat es keinen großen Unterschied gemacht«, sagt Viktoria, die seit fünf Jahren Klavier spielt. Von Lampenfieber ist bei der 13-Jährigen nichts zu merken, als sie als Erste vor der Marienkirche ihr Medley spielt. Die Menschen stehen bleiben und lauschen. Sie blendet ihre Umgebung aus.
Nicht alle nehmen die Musik bewusst wahr, dennoch begleiten klassische Werke, Popsongs, Ragtimes und Folksongs das Treiben an der Nikolaikirche, am Spitalhof, Tübinger- und Gartentor, an der Marienkirche und am Lindenbrunnen. Die Fachbereiche wechseln sich ab, sodass überall alles geboten werden kann. Nun gut, die Cellisten etwas weniger, müssen sie neben dem Instrument doch auch Stühle und Notenständer transportieren. »Mein kleiner grüner Kaktus« ist ihr letztes Stück an diesem Tag am Gartentor.
Zuvor spielten die zehn bis 14 Jahre alten Musiker im Spitalhof. Zwei Bachduette und zwei Trios aus der Zauberflöte gehören außerdem zu ihrem Repertoire. »Wir fanden die Idee ganz gut«, ist Ellen Winkel-Lim froh über die Gelegenheit, das Ensemble spielen lassen zu können. Und vielleicht ist das ja auch ein Modell, das sich weiterzuführen lohnen könnte. Ganz unabhängig von der Corona-Pandemie. (GEA)