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Aktuell Mobilität

So sieht der Reutlinger »Green-City-Plan« gegen hohe Schadstoffwerte aus

Alle reden vom Autonomen Fahren, davon, wie es den Verkehr verändern wird, aber auch die Städte – in zehn, zwanzig Jahren. Der Zukunftsmusik können derweil insbesondere Städte, in denen Fahrverbote drohen, nichtlauschen. Handlungsdruck regiert im Hinblick auf die Frage, was schnell helfen könnte gegen zu hohe Schadstoffwerte in der Luft. Reutlingen hat dafür einen Gesamtplanerarbeiten lassen: den »Green-City-Plan«.

Mit dem Bus zum Bahnhof: Künftig müssen Bahnfahrer dafür kein zusätzliches Ticket mehr lösen.   FOTO: PIETH
Foto: Frank Pieth
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Die Verkehrswende ist eine Herausforderung für die Städte – und eine enorme Chance. Heute Abend geht es im Vorfeld der Reutlinger Mobilitätstage um das Thema »Mobilität und Stadtentwicklung der Zukunft« (siehe Infobox). Auch das Autonome Fahren wird dabei Thema sein. Rechtliche Hürden, die Unfallproblematik: Skeptiker bestreiten jedoch, dass diese Art der Fortbewegung bei uns schon bald eine vorherrschende Fortbewegungsart werden könnte.

Derweil müssen viele Kommunen kurzfristige Lösungen finden, um Autoverkehr zu reduzieren. Weil auch unter der Achalm Fahrverbote drohen, ist wenig Zeit, faszinierender Zukunftsmusik zu lauschen: Handlungsdruck regiert in Reutlingen. Die Stickoxidwerte in der »Modellstadt Luftreinhaltung« müssen zügig gesenkt werden.

Handlungsleitfaden dafür ist der mit Bundesfördergeldern erarbeitete »Green-City-Plan«. Er wirft auf 120 Seiten einen umfassenden Blick in die nahe Zukunft, ist »Grundlage für die Gestaltung nachhaltiger und emissionsfreier Mobilität«, wie es im Plan heißt. Er ist zugleich Basis für weitere Förderentscheidungen des Bundes – zumeist aus dem Programm »Saubere Luft«. Das setzt auch das Zeitlimit: Bis spätestens ins Jahr 2020 sollen die Vorhaben zumindest begonnen sein.

Reutlinger Mobilitätstage

Reutlinger Mobilitätstage

Vortrag mit Professor Dr. Claus Doll: »Mobilität und Stadtentwicklung«

Um »Mobilität und Stadtentwicklung der Zukunft« geht es am heutigen Dienstag,  19.30 Uhr, in der Kreissparkasse am Reutlinger Marktplatz. Referent ist Dr. Claus Doll, Leiter des Bereichs Mobilität am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. In der anschließenden Podiumsrunde diskutieren mit ihm unter Leitung von Professor Dr. Herbert Müther (Universität Tübingen) Reutlingens Erste Bürgermeisterin Ulrike Hotz und Bernd Schott, der Umwelt- und Klimaschutzbeauftragte der Stadt Tübingen. Reutlinger Mobilitätstage: 30. und 31. März: Bei der Messe dreht sich in der Stadthalle und drumherum alles ums Thema Mobilität. Es geht um Elektrofahrzeuge und alternative Antriebe, Autonomes Fahren und die Herausforderungen für den ÖPNV. Radmesse Bike & more: Aussteller aus der Region präsentieren im Rahmen der Reutlinger Mobilitätstage Modelle und Trends. Räder stehen zum Testen bereit. Action verspricht auch ein Pumptrack. Karten: Im Vorverkauf gibt es das Kombiticket für 6 Euro (ermäßigt 3 Euro) für Messe und Busticket im Naldo-Gebiet.

www.easyticket.demobilitaetstage-rt.de

Das Kasseler Büro »plan:mobil« gehört zu den drei Büros, die den Gesamtplan 2018 erarbeitet haben. Frank Büsch und Felix Kühnel erläutern im GEA-Gespräch Einzelheiten und relativieren zunächst Euphorie im Hinblick auf Autonomes Fahren als allein selig machenden Problemlöser. »Als Zukunftsforscher würde ich auch auf das Thema aufspringen«, sagt Büsch über Prognosen, die 10, 15 Jahre als realistischen Realisierungshorizont für flächendeckende Versorgung mit selbstfahrenden Vehikeln sehen. Wenn überhaupt, dann später. »In Deutschland machen viele da nicht mit«, glaubt er. Bis dahin könne man in Reutlingen in aller Ruhe das Buskonzept umsetzen – und die Regionalstadtbahn bauen. Was die Kasseler nicht hindert, im Gesamtplan anzuregen, dass die Reutlinger Stadtverkehrsgesellschaft RSV auf einer Teststrecke in der Altstadt Autonomes Fahren testen solle.

Ansonsten führt der Plan zunächst bestehende Einzelkonzepte zusammen: Luftreinhalteplan, Masterplan Radverkehr, Erkenntnisse aus dem Fußverkehrs-Check und dem Klimaschutzkonzept, den Entwurf zum Flächennutzungsplan, die Pläne zu Stadtbuskonzept und Regionalstadtbahn. Letztere gilt zwar als zentrales Projekt, ist aber als Sofortmaßnahme untauglich und nicht im Fokus des Plans.

Digitalisierung, Elektrifizierung und Vernetzung lauten die Oberbegriffe der Leitziele. Insgesamt sind 128 Einzelmaßnahmen aus den verschiedenen Plänen aufgenommen. 46 besonders Relevante sind in Steckbriefen dokumentiert. 19 davon haben als Top-Priorität Eingang ins Sofortprogramm gefunden (Umsetzungsbeginn seit 2018).

Vorhandenes vernetzen

Von A nach B dank Mobil-Mix: Vernetzung schafft Verbesserung, die den Charme hat, dass sie oft auf vorhandene Angebote gründet. Smarte Mobilitätsstationen verknüpfen an Umstiegspunkten diverse Verkehrsträger wie ÖPNV, E-Carsharing, Bike+Ride und Radverleih und bieten Informationen, Ladestationen sowie weitere Dienstleistungen. Im Rathaus sind solche Mobilitätsstationen bereits in Planung, etwa am Bahnhof. Um »multimodale Mobilität zu erleichtern und auto-arme Lebensstile zu fördern«, sollten auch in Wohngebieten kleine Mobilitätspunkte eingerichtet werden, ist im Plan unter anderem angeregt.

Infrastruktur für E-Mobilität

Die Stadt Reutlingen verfolge einen »strategischen Ansatz zum Ausbau eines nachhaltigen, bedarfsgerechten und flächendeckenden Ladeinfrastruktur-Basisnetzes im öffentlichen Raum«, ist im Gutachten zu lesen. Das Ziel, den Eletroauto-Anteil zu erhöhen, erfordere dabei eine synchrone Entwicklung nicht nur der Ladeinfrastruktur, sondern auch der Stromnetze, speziell des Verteilnetzes, das teils ausgebaut und umgerüstet werden müsse.

Der Busverkehr soll im Zuge von Ersatzbeschaffungen und über Umrüstungen auf batterie-elektrischen Antrieb umgestellt werden: für die Gutachter eine Top-Priorität. Auf Firmen hat die Stadt keinen Zugriff, etwa auf den überbordenden Paket-Dienstleister-Verkehr in der Kernstadt. Hier ist als Sofortmaßnahme ein System von Verbot und Anreiz vorgeschlagen, das Elektrifizierung – oder schadstoffärmere Technologie – bei den Firmenflotten vorantreibt: über die Genehmigungspraxis für die Einfahrt in die Innenstadt. Gefördert werden sollten auch »Mikrodepots« an zentralen Umschlagplätzen: transportable Behälter, die innenstadtnah aufgestellt und als Anlaufstelle für Zusteller auf der letzten Meile genutzt werden. Die Feinverteilung erfolgt dann per Elektro-Kleintransporter oder per Lastenrad.

Mehr Digitalisierung

Die Fortführung und Ausweitung des Pilotprojektes »Smart Urban Services« genießt im Green-City-Plan Top-Priorität. Eine urbane Sensor-Infrastruktur und eine Datenplattform seien bereits aufgebaut. Es bestünden jedoch keine Schnittstellen zu anderen Systemen, wie etwa dem Netzcomputer, der automatisierten Verkehrslenkung oder den Verfügbarkeitsdaten des ÖPNV.

Die Digitalisierung des Parkleitsystems und der Ausbau der digitalen Fahrgastinformation gehören ebenfalls zu den Top 19. Die Gutachter messen dem Ausbau von Echtzeitinformationen dabei eine Schlüsselrolle zu. Im Individualverkehr können beispielsweise über Parkraumsensoren, stationäre Messstellen oder an Bord von Fahrzeugen in Echtzeit erhobene Informationen in Navigationsprogramme eingespeist werden und so die Grundlage für eine intelligente Verkehrssteuerung bilden. Echtzeitdaten könnten – ebenfalls Top-Priorität – auch Ampelanlagen dynamisch steuern. Voraussetzung sei allerdings eine stabile und leistungsfähige Dateninfrastruktur: Ohne den neuen Mobilfunk-Standard 5G geht gar nichts.

Lob fürs Stadtbuskonzept

100 neue Haltestellen, Taktverbesserung, neue Direkt-, Tangential- und Quartiersbuslinien: In Sachen neues Stadtbuskonzept (Start September) hat die Stadt ihre Hausaufgaben lange vor dem Gesamtplan gemacht. Die Kasseler Experten helfen bei der Umsetzung und sind voll des Lobes für die zuständigen Ämter im Rathaus und die Reutlinger Stadtverkehrsgesellschaft RSV. »Ziemlich flott« gehe alles über die Bühne, »so schnell wie hier passiert das sonst nicht.« Bemerkenswert sei insbesondere die umfangreiche Angebotsverbesserung in den Teilorten. Die Einführung weiterer Quartiersbuslinien gehört zu den Top 19 im Plan.

Vernachlässigt: Fußgänger

Beim Fußverkehr fällt die Bilanz weniger rosig aus. Wie in anderen Städten habe man in Reutlingen die Fußgänger »zu wenig auf dem Schirm«, so Frank Büschs Einschätzung. Ergebnisse des Fußverkehrs-Checks belegten »die hohe Relevanz dieser Verkehrsart im Alltag der Bürger«, heißt es dazu im Plan. Das erfordere im städtischen Planungsbüro einen »deutlich höheren Stellenwert« dieser Verkehrsart. Als eine Top-Priorität ist die Erarbeitung eines Fußverkehrskonzepts aufgenommen. Dabei solle auch auf den Ausbau »hochwertiger« Fußwegeachsen im Zentrum geachtet werden.

Radverkehr: Korridore realisieren

Luft nach oben auch beim Radverkehr. Der »Masterplan Radverkehr« steht schon seit geraumer Zeit, ohne dass viel passiert wäre. Frank Büsch zeigt Verständnis. In Reutlingen liefen gerade mehrere große Themen gleichzeitig. »Der Masterplan gewinnt an Fahrt, wenn das aufwendige Buskonzept umgesetzt ist.«

In der Top-19-Prioritätenliste empfehlen die Gutachter den zügigen Ausbau der Hindenburgstraße als Fahrradstraße.

Thema Mobilität im GEA

Thema Mobilität im GEA

Weitere Sonderseiten: Freitag, 15. März: Trends aus der Fahrradbranche Dienstag, 19. März: Nahverkehrskonzepte im Kreis Reutlingen Freitag, 22. März: Regionalstadtbahn Dienstag, 26. März: Brennstoffzelle und alternative Antriebsformen Freitag, 29. März: Reutlinger Mobilitätstage und Fahrradmesse Bike & more

Zu den mittelfristigen Empfehlungen gehören eine Reihe von Vorschlägen aus dem Masterplan Radverkehr, insbesondere der Ausbau von Radhauptachsen im zentralen Stadtgebiet, die Anbindung der Stadtbezirke sowie Radschnellverbindungen nach Tübingen, Bad Urach und Honau.

Schnell solle ein flächendeckendes Leihradsystem angeboten werden – mit Pedelecs und Lastenfahrrädern. Die Gutachter weisen auch darauf hin, dass beide Fahrradarten Anforderungen an die Infrastruktur stellen: insbesondere an die Breite der Radwege.

Förderpolitik macht Druck

Dass die vielen Anregungen aus dem Gesamtplan die Stadt fordern, räumen die Kasseler Experten ein. Im Gespräch wird auch deutlich, dass in der Förderpraxis in Berlin so manches übers Knie gebrochen wird in Sachen Luftreinhaltung. Das macht den Kommunen die Arbeit nicht leichter. »Mit Hochdruck entstehen neue Fördertöpfe«, sagt Felix Kühnel. Unübersichtlichkeit und teils kurze Fristen, um Projektskizzen einzureichen, sind eine Folge.

Wie streng der Bund Zeitverzug handhaben wird, ist noch unklar. Es gibt Karenz und/oder neue Programme, mutmaßen die Experten. Die Fokussierung auf die schnelle Einhaltung der Schadstoffgrenzwerte ist dabei beileibe kein Garant für eine zukunftsfähige Verkehrspolitik. Der Bund müsste das Problem Luftverschmutzung »langfristiger und strukturierter« angehen, finden Frank Büsch und sein Kollege. (GEA)