REUTLINGEN. »Die vielen Tausend Menschen, die in Lager- und Sammelunterkünften untergebracht sind, wollen losgehen und ihr Leben leben«, sagte Ulrike Binder. Um dies symbolisch und auch praktisch zu unterstützen, hatte sie gleich mehrere Schuhpaare mitgebracht. Unter dem Motto »Reutlingen steht für Solidarität« demonstrierten gestern Mitglieder der »Seebrücke Reutlingen« und des Asylpfarramts Sie hatten alle Bürger eingeladen, Schuhe mitzubringen und damit ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu zeigen. Die Aktion fand auch an anderen Orten Deutschlands statt.
Solidarisch über die Grenzen
»Die Schuhe stehen für alle, die für die Rechte von Geflüchteten demonstrieren würden und es gerade wegen der Coronakrise nicht können«, sagte Asylpfarrerin Ines Fischer. Die Schuhe werden aber bei nächster Gelegenheit nach Griechenland gebracht. Es sei dringend an der Zeit, die Lager zu evakuieren. Die Europäische Union sei nicht bereit, Abhilfe zu schaffen. Deutschland habe lediglich zugestimmt, 500 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Eine Zahl, die den Zuständen nicht gerecht werde. »Die Aktion soll ein Anstoß für die Landesregierung sein, ein eigenes Aufnahmeprogramm zu entwickeln«, so Fischer.
Mit einem Schreiben vom 17. April 2020 seien Stadtverwaltung und Gemeinderat Reutlingen daran erinnert worden, dass auch die Stadt Geflüchtete aus Griechenland aufnehmen könne. »Corona bedeutet auch, über die Grenzen hinaus solidarisch zu sein.« Reutlingen habe sich per Gemeinderatsbeschluss im April 2019 zum »Sicheren Hafen« erklärt und damit seine Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind, bekundet. Jetzt warte man auf die Reaktion auf das Schreiben vom April. Auch Reutlingen solle ein eigenes Aufnahmeprogramm des Landes unterstützen.
Lisann Breitschmied und Katharina Bausch von der »Seebrücke« und dem »AK Asyl« erinnerten an den bundesweiten Aktionstag am Freitag, an dem auch »Fridays for future«, »Europe must act« sowie der Flüchtlingsrat und Flüchtlingsorganisationen appellierten, die Lager zu evakuieren. »Die Länder sind laut Gerichtsbeschluss unabhängig vom Bund dazu berechtigt, ein Aufnahmeprogramm aufzusetzen«, so Bausch. Wie es in den Lagern zugeht, zeigten ausgelegte Folien auf dem Marktplatz. »1 Dusche für 250 Menschen« war zu lesen oder »Im Camp Moria sind 25 000 Menschen eingesperrt«.
Ulrike Binder kennt das Leid aus den Berichten ihres Mannes Dr. Martin Binder, der drei Monate lang als Arzt im Rahmen des Hilfprojekts »Medical Volunteers« auf Lesbos tätig war. »Es ist unvorstellbar und unerträglich«, sagte sie. »Vor allem Kinder sind schutzlos der Gewalt in den völlig überfüllten Lagern ausgeliefert.« Während der Aktion auf dem Marktplatz habe ihr Mann eine Mail bekommen, dass sich erneut zwei Menschen das Leben genommen hatten, weil sie die Lebensumstände nicht mehr aushielten. Vielfach besaßen die Geflüchteten nur das, was sie am Leib trügen. »Es ist eine Schande, dass so etwas vor den Toren Europas möglich ist.« Trotz Corona seien dagegen die Probleme, die man in Deutschland habe, banal.
»Es ist eine total gute Aktion«, sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke. »Die Lage ist in den Lagern menschenunwürdig und durch Corona noch schlimmer. Denn Abstand halten ist nicht möglich, die Hygiene eine Katastrophe.« Man brauche dringend eine humane Asylpolitik. »Ich setze mich auch im Landesvorstand dafür ein, das Aufnahmekontingent für Geflüchtete zu erhöhen«, so Kreisrätin Cindy Holmberg.
Auch SPD fordert Programm
Zeitgleich zu der Aktion verschickte die Reutlinger SPD-Fraktion eine Pressemitteilung zum gleichen Thema. Die Zustände für die Flüchtlinge in den Lagern in Griechenland seien katastrophal. Jetzt sei es Zeit zu handeln, begründet der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Treutlein die Forderung seiner Fraktion, dass sich die Stadt über den Städtetag Baden-Württemberg beim Land Baden-Württemberg dafür einsetzen solle, dass ein Landesaufnahmeprogramm eingerichtet wird.
"Reutlingen hat sich wie viele andere Städte zum sicheren Hafen erklärt. Wir wollen, dass daraus auch konkrete Menschlichkeit wird", unterstreicht SPD-Stadträtin Edeltraut Stiedl die Forderung der SPD in der Pressemitteilung. "Die in sehr schwierigen Umständen lebenden Menschen brauchen unsere Solidarität", betont Helmut Treutlein. Unverständlich sei, dass die Landesregierung sich bisher nicht zu einem Landesaufnahmeprogramm entschließen konnte. Obwohl viele Städte bereit seien, an der Aufnahme mitzuwirken, bleibe die Landesregierung von Ministerpräsident Kretschmann untätig" stellt Edeltraut Stiedl fest. Für die SPD gehe es um die Menschlichkeit. Genügend Platz sei derzeit in Reutlingen vorhanden, davon habe sich die SPD-Fraktion anhand derzeitiger Zahlen vergewissert.
Bereits vor vier Wochen hattte sich SPD-Fraktionsvorsitzende Treutlein namens der SPD bei Oberbürgermeister Thomas Keck erkundigt, ob Reutlingen zur Aufnahme einiger Kinder und Jugendlicher angefragt wurde. Die SPD-Fraktion wollte wissen, ob es entsprechende Gespräche auch mit der Stadt Reutlingen und ein Zusammenwirken der Kommunen gibt, die aufnahmebereit sind. Eine Antwort stehe noch aus.
»Wir wollen die gelebte Menschlichkeit und Solidarität gerade auch mit den Menschen in größter Not in Griechenland teilen und wir sind dazu in der Lage. Wegschauen und abwarten geht nicht«, resümiert SPD-Stadtrat Sebastian Weigle in der Pressemitteilung. (GEA)