REUTLINGEN. Der fünfte Reutlinger Stolperstein zum Gedenken an ehemalige jüdische Mitbürger fand seinen Platz vor dem Friedrich-List-Gymnasium. Dort hatte Dr. Hans Martin Berger von 1930 bis 1933 als beliebter und geachteter Lehrer unterrichtet, bis er von den Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft von seinem Beruf ausgeschlossen wurde. Schulleiterin Susanne Goedicke konnte unter den Gästen Oberbürgermeister Thomas Keck, Kulturamtsleiterin Anke Bächtiger, Stadtarchivar Dr. Roland Deigendesch sowie den Kölner Bildhauer Gunter Demnig begrüßen, der die Stolpersteine kreiert hatte. »Wir freuen uns, dass die Verlegung des Gedenksteins trotz Pandemie geglückt ist«, betonte die Rektorin. Dies bedeute auch den Abschluss eines Schulprojektes zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Angeregt hatte es Christoph Sennert, ehemaliger Geschichtslehrer am Johannes-Kepler-Gymnasium. Denn an dieser Schule hatte Martin Berger unterrichtet, als er nach seinem Exil in England wieder nach Reutlingen zurückkehrte. »Das ist mehr als bemerkenswert«, sagte Keck. »Es zeigte, dass Berger trotz sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeter Juden dennoch eine Zukunft sah.«
Im Jahr 2021 werden 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland begangen. Angesichts antisemitischer Tendenzen sei man aufgerufen, Position zu beziehen und aktiv dagegen vorzugehen. Das Friedrich-List-Gymnasium erinnere nicht nur, sondern fordere auch dazu auf, sich gegen Antisemitismus einzusetzen.
Beliebte Lehrkraft
Nach der musikalischen Begrüßung durch den Kanon »Schalom chaverim«, gesungen von Louisa Mayer und Lorena Wahlert und am Keyboard begleitet von Ursula Herrenbrück, die später auch Sarah Bathes (Geige) beim »Theme from Schindler’s List« begleitete, trugen Teilnehmer des Leistungskurses Geschichte der Pädagogin Sabine Thoma-Hass ihre Gedanken zur Biografie von Dr. Hans Martin Berger vor.
»Mit der Machtübernahme durch das nationalsozialistische Regime 1933 begann auch in Reutlingen ziemlich rasch die Ausgrenzung der Juden, für die kein normales Leben mehr möglich war«, sagte Roba Karnib. Dem sei die Auslöschung jüdischen Lebens gefolgt. Sich mit dem Schicksal eines Einzelnen zu beschäftigen und zu erleben, wie sein Lebensentwurf zerstört worden sei, wirke viel nachdrücklicher als abstrakte Zahlen. »Man entwickelt Empathie«, so die Schülerin.
Eine Archivtätigkeit, so Schülerin Ann-Kathrin Mädler, sei der erste Beruf des 1889 in Breslau geborenen Bergers gewesen, bevor er 1917 in den Schuldienst trat. In Reutlingen sei er drei Jahre lang eine respektierte, beliebte Lehrkraft gewesen, bevor er seinen Beruf aufgeben musste und 1937 nach Danzig emigrierte. "Nach seiner Flucht nach England kehrte er 1949 nach Reutlingen zurück, wo er bis zum Ruhestand 1954 am Johannes-Kepler-Gymnasium unterrichtete. 1967 ist Berger in Reutlingen gestorben. Der Stolperstein sei ein Mahnmal für alle Passanten und insbesondere auch ein Denkanstoß für jüngere Schüler.
»Für uns scheint heute der Nationalsozialismus weit entfernt und unvorstellbar«, sagte Frieder Morgenstern. »Doch der Stolperstein ruft in Erinnerung, dass der Nationalsozialismus unwiederbringlich Leben veränderte und zerstörte.« Der Stein sei kein »Schuldmahnmal«, sondern das effektivste Mittel gegen aktuelle Tendenzen: »In der heutigen Zeit, in der sich völkisches Gedankengut in ganz Europa ausbreitet, bedeutet der Stein auch einen Aufruf zur Zivilcourage. Durch Menschen wie Berger weiß ich die Freiheit ganz besonders zu schätzen, die ich in der demokratischen Gesellschaft genieße«, sagte der Schüler.
Rektorin Susanne Goedicke betonte, das Gymnasium sei eine »Schule ohne Rassismus« und verwies auf die im Gebäude aufgebaute Anne-Frank-Ausstellung. (GEA)