REUTLINGEN. Das Schicksal jüdischer Bürger Reutlingens mit Häusern in der Stadt verbunden haben Schülerinnen der Laura-Schradin-Schule zum diesjährigen Pogromgedenken in der Marienkirche.
Bei einem Stadtrundgang auf Großbildleinwand haben sie anhand von Fotos von Reutlinger Gebäuden in Erinnerung gerufen, was jüdischen Frauen und Männern schon vor den Novemberpogromen von 1938 an Schikanen zugefügt wurde und wie dies dann in blanker Gewalt, Verschleppung und Ermordung eskalierte. Einigen gelang es, vor 1939 auszuwandern, allerdings mussten sie ihren Besitz deutlich unter Wert verkaufen oder zurücklassen.
Bezug zur Gegenwart
Den Bezug zur Gegenwart stellten die elf Schülerinnen dadurch her, dass sie antisemitische Vorfälle in Deutschland aus dem Jahr 2021 mit Ort, Datum und kurzer Nennung der Tat auflisteten. Auch erinnerten sie daran, dass es in Reutlingen jetzt wieder einen Betsaal für die jüdische Gemeinde gibt, der Ort aber aus Sicherheitsgründen nicht bekannt gegeben werden kann. Norbert Pellens, Schulleiter der Laura-Schradin-Schule, warnte in seiner Ansprache: »Der Teufel steckt im Vergleich.« Er meinte damit die Bewertung anderer Menschen durch eine Definition von Normalität. Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma oder behinderte Menschen seien im Nationalsozialismus als »abnormal« eingestuft worden, während sich die Mehrheit für »normal« hielt. »Diese Form des Vergleichs ist mörderisch«, sagte Pellens. Aus diesen Erfahrungen zu lernen bedeute, dass die Schule heute den Wert der Vielfalt herausstelle, dass man in dieser Vielfalt voneinander lernen kann statt abzuwerten.
Last der Erinnerungen
In sehr persönlichen Worten wies German Nemirovski, aus dessen Familie in den Konzentrationslagern etliche Angehörige ermordet wurden, als Vertreter der jüdischen Gemeinde auf die Last der Erinnerung hin: »Es ist für mich unerträglich. Ich kann keine Bücher über den Holocaust lesen, keine Filme über den Holocaust sehen.« Doch es sei wichtig, die Erinnerung wach zu halten und die Menschen nicht zu vergessen, denen Grausames angetan wurde. Das Verlegen der Stolpersteine in Reutlingen, die von den Schulen vorbereitete Gedenkstunde oder die Erinnerungstafel am Garten des Heimatmuseums seien Beiträge dazu.
Zu dieser Tafel führte dann die Lichterprozession der mehr als 200 Teilnehmenden. Mit einem Gebet für die Toten endete dort das Gedenken in aller Stille. (GEA)
POGROMGEDENKEN
Brennende Synagogen und Beginn der Vernichtungsaktion
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten durch gezielte Aktionen der SA in ganz Deutschland Synagogen, jüdische Läden und Wohnhäuser. Am 10. November begann mit der Verhaftung von 30 000 jüdischen Bürgern die Vernichtungsaktion des Holocaust. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Reutlingen ruft seit 1988 zu einer Gedenkstunde am 9. November auf. Inhaltlich wird das Gedenken von jährlich wechselnden Schulen vorbereitet, die zugleich für die Beteiligung der Stadt Reutlingen stehen. Seit es in Reutlingen wieder eine jüdische Versammlung der zur Stuttgarter Gemeinde gehörenden Gläubigen gibt, beteiligt sich auch diese an dem Gedenken. (jsn)