REUTLINGEN. Schulschließungen, vom Kirchgang wird abgeraten und das öffentliche Leben eingeschränkt – dies alles war bereits Alltag während der sogenannten Spanischen Grippe, einer Pandemie, die vor über 100 Jahren weltweit Millionen Opfer forderte und auch Reutlingen erreichte.
Zuweilen sind es die kleinen Dinge, die Großes anzeigen. In der Quarta der Reutlinger Mädchenrealschule, heute würde man von der 7. Klasse des Isolde-Kurz-Gymnasiums sprechen, wurde in der Woche vom 14. bis zum 19. Oktober 1918 im Fach Religion der Barmherzige Samariter behandelt, im Singen das Kinderlied »Herr Postillon Herr Postillon/wo geht die Reise hin« einstudiert.
Im Wochenbuch findet sich aber dann der Eintrag: »Schließung der Schule wegen Grippe«. Die Pandemie, die auf den Erreger H1N1 zurückgeht und damals – völlig zu Unrecht – unter der Bezeichnung »Spanische Grippe« bekannt wurde, hatte Reutlingen endgültig erreicht. Vor dem Hintergrund des zu Ende gehenden Krieges waren die Rahmenbedingungen indes um ein Vielfaches schwieriger als heute, die Opferzahlen hoch.
Die Pandemie scheint nach einem frühen Auftreten in den Vereinigten Staaten mit den durch den Kriegseintritt der USA einsetzenden Truppentransporten den Weg zum westlichen Kriegsschauplatz gefunden zu haben. Die erste Welle des Virus wurde just in dem Moment spürbar, als die deutsche Armee mit einer finalen Offensive versuchte, das Blatt im Westen nochmals zu wenden.
Ernst Jünger notierte am 9. Juli in sein Tagebuch: »Die spanische Krankheit macht weitere Fortschritte bei uns. 2 Kompanie-Führer sind schon unten, täglich gehen Leute ab.«
So drastisch die Ausfälle – auf beiden Seiten der Front – auch waren, so wenig war darüber in der Öffentlichkeit zu erfahren. Wie eine jüngere Arbeit zur Epidemie in der Region um das westfranzösische Nantes zeigt, wurden die Zeitungen gebeten, die steigenden Sterbezahlen auch unter der Zivilbevölkerung nicht zum Thema zu machen – in Reutlingen war dies nicht anders.
Auffallend ist auch, dass selbst an der Front eingesetzte Ärzte die Krankheit nicht oder kaum erwähnten. Antonia Jeismann, die Feldpostbriefe des Reutlinger Ehepaars Goerlich untersuchte, vermutet, dass der Partner nicht mit bedrückenden Nachrichten behelligt werden sollte – möglichst keine besorgniserregenden Nachrichten vom Frontgeschehen also und auch keine »Jammerbriefe« von zu Hause.
Erst spät eröffnete Elisabeth Goerlich ihrem Mann ihre Erkrankung, der dann nurmehr ans Totenbett seiner Frau kommen konnte.
Etwas anders scheint sich dies in einfacheren Familien abgespielt zu haben. In einem Brief von Ernst Eberbach an seinen Sohn Fritz wird deutlich gesagt: »Bei uns herrscht gegenwärtig die Grippe, und zwar streng, denn sie fordert viele Opfer.«
Damals, im Oktober 1918, handelte es sich bereits um die zweite Grippewelle, die besonders die Zivilbevölkerung in Deutschland traf, und dies zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Die Menschen waren durch Hunger und die Strapazen der Zeitumstände ausgezehrt. Schon im Spätsommer 1917 hatte Sanitätsrat Julius Gayer der Reutlinger Ortskrankenkasse über viele offenbar erschöpfungsbedingte Erkrankungen bei Frauen berichtet.
Interessant, auch aus heutiger Sicht, ist der Umgang mit der Epidemie. Lange war von Einschränkungen des kriegsbedingt ohnedies nicht so sehr abwechslungsreichen Alltags keine Rede. Dann aber verbreitete sich die Krankheit rasch.
Der Direktor der Mädchenrealschule, Dr. Ernst Haußer, notierte am 18. Oktober 85 erkrankte Schülerinnen, am Tag darauf 125, also 50 Prozent mehr an einem Tag, insgesamt ein gutes Drittel der Schülerschaft. Das war nun für den Schulleiter Anlass genug, beim Gesundheitsamt anzuregen, die Schule zu schließen. Ein entsprechender Erlass des Oberamts folgte auf dem Fuß und originell muss wirken, wenn sich in den einschlägigen Akten des Stadtarchivs im selben Bund ein etwa zeitgleiches Rundschreiben des Stuttgarter Kultusministeriums mit genau entgegengesetztem Inhalt findet: Schulschließungen sollten demnach nicht unbedacht vorgenommen werden, der Erfolg einer solchen Maßnahme sei keineswegs mit anderen Epidemien vergleichbar.
In Reutlingen war die Entscheidung aber getroffen, die Schulen blieben zu bis zum 11. November. Und nun konnte man vermehrt auch aus der Presse etwas erfahren. Der Tübinger Doktorand Lukas Kuhn fand in einer Auswertung der Reutlinger Zeitungen während der Novemberrevolution heraus, dass ab dem 31. Oktober Einschränkungen des öffentlichen Lebens bekannt gegeben wurden.
»Ansammlungen« bei »Märkten, Messen, Versammlungen und Übungen sowie bei allen Vergnügungen« blieben »bis auf Weiteres« verboten. Mit Grippesymptomen behafteten Personen wurde Absonderung nahegelegt und insbesondere vom Kirchgang abgeraten.
Um ein Ausbreiten der Grippe zu verhindern, war es nun natürlich schon zu spät. Der Eisenbahnverkehr musste ebenso wie der Betrieb des örtlichen »Konsum« bald wegen Personalausfällen eingeschränkt werden und am 6. November war zu lesen: »Die Grippe hat auch in Reutlingen in bedenklicher Weise um sich gegriffen.«
Dies alles hielt jedoch die Bevölkerung wenige Tage später nicht davon ab, sich gemeinsam zur machtvollsten Kundgebung seit der berühmten Reutlinger Pfingstversammlung von 1849 auf den Weg zu machen. Tausende trafen sich am 11. November auf dem Marktplatz, um die Republik auszurufen. Die Schulen öffneten passenderweise am selben Tag und mit Blick auf die anstehenden Halbjahreszeugnisse mahnte der Schulleiter »Rücksicht auf die Schwierigkeiten im Halbjahr« an, die nicht nur durch die Grippe, sondern auch etliche Einsätze für die Kriegswirtschaft und beim Laubheusammeln bedingt waren.
Am 11. November endeten überdies die Waffenstillstandsverhandlungen im fernen Compiègne, die – vielleicht auch aus Gesundheitsgründen? – abgeschieden in einem Waldstück stattfanden. Der Leiter der deutschen Delegation, der aus dem Albdorf Buttenhausen stammende schwäbische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, hatte erst wenige Wochen zuvor seinen Sohn Oskar durch die Grippe verloren.
An den dem Waffenstillstand vorausgehenden Beratungen über die Friedensnote des amerikanischen Präsidenten Wilson konnte er, so Erzberger in seinen Erinnerungen, »nicht mehr teilnehmen, da ich an das Sterbelager meines einzigen Sohnes, der als Fahnenjunker in Karlsruhe stand, gerufen wurde.«
Wie war die Opferbilanz in Reutlingen? Genaue Zahlen sind nicht bekannt, doch sprechen die im städtischen Amtsblatt veröffentlichten Nachrichten des Standesamts für sich: Von September auf Oktober 1918 hatten sich die Einträge im Sterberegister mehr als verdreifacht.
Dies ist auch dann noch außerordentlich, wenn man berücksichtigt, dass hier auch Nicht-Reutlinger erfasst sind, die etwa im Krankenhaus verstarben. Heilmittel gab es nicht.
Florian Bauer stellte in seiner Düsseldorfer Doktorarbeit über die Pandemie von 1918 fest, dass ein »polypragmatischer Therapieansatz« vorherrschte. Das bedeutet nichts anderes, als dass man nach dem Prinzip Versuch und Irrtum vorging. Was auch nur den Anschein machte, zu nützen, wurde als gut betrachtet.
Ein damals verbreitetes Mittel, Chlorcalcium, wurde auch in der Reutlinger Zeitung beworben. »Das effektivste damals zur Verfügung stehende Mittel«, so Bauer, »blieb aber Bettruhe und gute Pflege«, sodass die Krankenschwester bald wichtiger wurde als der Arzt.
An einigen Orten scheint es nicht so schlimm gekommen zu sein. Der Gönninger Leichenschauer, der in einem Verzeichnis akkurat die Todesursache seinen Verstorbenen beisetzte, notierte zwar Fälle von Grippe oder Lungenentzündung, die auf das Virus zurückgehen dürften. Allerdings waren die Sterbezahlen in Gönningen 1918 gegenüber dem Vorjahr kaum erhöht.
Trug dieser uneinheitliche Verlauf dazu bei, dass die fatale Pandemie weitgehend aus dem Gedächtnis getilgt zu sein scheint?
In den Erinnerungen des Reutlinger Chronisten und langjährigen Museumskurators Karl Keim jedenfalls endet die »Spanische« Grippe mit einer Anekdote.
Eines Tages, so Keim, der die Oberrealschule – heute das Johannes-Kepler-Gymnasium – besuchte, fiel auf, dass der Lehrer nicht zum Unterricht erschien.
Die unausgesprochene Vermutung war, dass auch ihn die Grippe ereilt hatte. Weit gefehlt, so Keim, vielmehr war der – für einen grippeerkrankten Kollegen eingesprungene – Lehrer August Thalheimer (1884 bis 1948), ein bekannter Sozialist, Freund Rosa Luxemburgs und USPD-Politiker, vom Schuldienst entlassen worden und stand wenig später an der Spitze des Stuttgarter Arbeiterrats. Die dritte Welle der Pandemie im Jahr 1919 hat dann keine vergleichbaren Spuren mehr hinterlassen. Eventuell war bereits eine gewisse Immunisierung eingetreten. (GEA)