REUTLINGEN. Es ist der letzte Dienstag im März, 8 Uhr. Auf dem Seminarplan steht die Vorlesung »Inklusion – Exklusion«. Normalerweise würden die Studierenden des zweiten Semesters im Studiengang Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule auf dem Reutlinger Campus im Vorlesungssaal sitzen und sich angeregt unterhalten: An diesem ersten Tag nach der vorlesungsfreien Zeit hätten sich die Studierenden viel zu erzählen und sie würden sich sehr freuen, dass sie wieder ihre Mitstudierenden treffen. Erst nach mehrmaligen Hinweisen gelänge es, Ruhe im Hörsaal herzustellen. Doch in diesem Semester ist alles anders. Vor circa drei Wochen hat das Wissenschaftsministerium beschlossen, dass der Semesterstart und die Präsenzlehre auf den 20. April verschoben werden. Für das Kollegium war klar: Start ist wie vorgesehen in dieser Woche, nur mit anderen Zugängen.
An diesem ersten Tag sitzen deshalb alle Studierende ohne Ausnahme an ihrem PC, Laptop oder Handy, zu Hause bei ihren Eltern oder in ihren Zimmern in Reutlingen. Es ist sehr still, auf dem Bildschirm werden ausschließlich die Namen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen angezeigt. Alle sind pünktlich da.
Die Videos der Studierenden sind ausgeschaltet, damit die Verbindung stabil bleibt. Die Begrüßung, die Bezugnahme auf die aktuelle Situation, die Einleitung in die Vorlesung und Besprechung des ersten Textes – all das wirkt auf den Dozenten sehr befremdlich, weil nichts vom Gegenüber spürbar und erkennbar ist. Die Ansprache geht in einen unendlichen Raum. Die Beiträge der Studierenden sind in diesem neuen Format noch sehr verhalten. Einige Studierende trauen sich zu reden, andere schreiben einen Kommentar in das sichtbare Chat-Feld. Am Ende gibt es aber eine positive Rückmeldung. Die direkte Ansprache über die räumliche Distanz tut gut.
»Es ist wichtig, dass für Menschen am Rande Begegnungsräume geschaffen werden«
Nur Aufgabenpakete zu bekommen, verschärft die vorhandene soziale Distanz – so die Studierenden. In kleineren Seminaren – so zeigt die Erfahrung in der ersten Woche – ist es über die digitalen Medien überhaupt kein Problem, ins Gespräch zu kommen. Hier wird deutlich, dass der Hochschulbetrieb in vielen Bereichen den großen Vorteil hat, dass direkte Begegnungen mithilfe von Online-Kommunikationsformen auf Zeit ersetzt werden kann.
Alle haben einen Zugang, aber es bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit, dass keine und keiner verloren geht, weil auch Studierende in der Isolation in Krisen kommen können. Für Studierende, die im Praxissemester sind, ist die Situation sehr herausfordernd und die praktischen Erfahrungsräume sind sehr begrenzt, weil einige der Studierenden die Praxiseinrichtung nicht besuchen können. Einige Praxiseinrichtungen sind für den Publikumsverkehr geschlossen, Homeoffice ist angesagt. Hier wurden in den letzten beiden Wochen mit den Praxisanleitern Aufgaben überlegt, die die Studierenden von zu Hause aus erledigen können.
Eine weitere Herausforderung stellt sich für Studierende im Projektstudium dar. Projekte im Sommersemester wie Rikscha-Fahrten mit älteren Menschen zu organisieren, um der Vereinsamung im Alter zu begegnen, einen Film über die deutsche Fußballmeisterschaft in Reutlingen für Menschen mit Handicap zu drehen oder am Reutlinger Festival Kultur am Rande mitzuwirken, müssen in neue Formate gebracht werden. Hier gilt es die Projekte neu zu erfinden, weil es im Moment wichtig ist, dass für Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft ihren Alltag in dieser schwierigen Zeit bewältigen müssen, entsprechende Begegnungsräume geschaffen werden. Es wird für die Hochschule vor allem spannend, ob es gelingt, abseits von direkten Begegnungen andere Zugänge und Kommunikationsformen zu (er)finden, um Zugehörigkeit und Teilhabe zu ermöglichen.
Einige Studierende haben in ihrem Alltag jenseits des Studiums in diesen Tagen der Coronaviruskrise auch neue Aufgaben zu integrieren. Sie engagieren sich als studentische Hilfskraft in der Corona-Klinik oder als Betreuerin in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen.
Der Theorie-Praxis-Bezug im Studium bringt in diesen Tagen etwas oft Verborgenes ans Tageslicht: Die Soziale Arbeit ist systemrelevant und leistet einen wichtigen Beitrag, um Menschenrechte zu gewährleisten, die soziale Teilhabe zu ermöglichen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu sichern. (GEA)