REUTLINGEN. Die Telefonseelsorge ist schon erfunden. Nun gibt es per Telefon Hilfe auf dem Reutlinger Rathaus für eine ganze spezielle Form der Not: Das »Hilfetelefon für Energiekosten« verspricht Beistand für Menschen, die die drastisch steigenden Energiekosten finanziell überfordern – oder die dieses zumindest fürchten. Denn es gibt weiter viele Unbekannte.
Die Menschen seien verunsichert. »Da blickt keiner mehr durch«, so der einhellige Eindruck der Anwesenden beim Pressegespräch zum Hilfetelefon. Was für manche »nur« ein Ärgernis ist, ist für andere existenzbelastend. »Wir versuchen aber, niemanden allein zu lassen«, sagt Sozialamtsleiter Joachim Haas in Anlehnung an den Kanzler-Scholz-Ausspruch. Abteilungsleiter Michael Embery sieht ein »niederschwelliges, passgenaues Angebot«. Er ist – unterstützt von Hannah Gärtner – Koordinator und Organisator der Hotline.
»Wir versuchen, niemanden allein zu lassen«
Im Einsatz an der Strippe sind derzeit Wilfried Jakubietz, Karl Neumaier und Margit Polzer – allesamt ehemalige Sozialamts-Mitarbeiter jetzt in Rente: Auch im Rathaus sucht man flexible Lösungen angesichts der allerorten grassierenden Personalknappheit.
Hat jemand Anrecht auf eine Leistung und wer ist dafür zuständig, das sind Kernfragen, die das Telefonisten-Team unter anderem beantwortet. Nach dem Vorgespräch werden Ratsuchende weiter an die Zuständigen im Sozialamt (bei Wohngeld, Grundsicherung und Kinderzuschlag) oder ans Jobcenter (für Hartz IV) verwiesen. Embery spricht von einer »Lotsenfunktion«.
Erste greifbare Vorboten der dramatischen Entwicklung der Energiepreise in den Haushalten: erhöhte Abschlagszahlungen. So hat beispielsweise die Reutlinger Wohnungsgesellschaft GWG zum 1. November die Heizkostenvorauszahlungen verdoppelt. Seitdem klingelt auch das Hilfetelefon öfter.
Meist melden sich Menschen, die eine schmale Rente und bisher noch keine Leistung beziehen, so das bisherige Resümee der Telefonseelsorger. Oft an der Strippe auch: Alleinerziehende und Familien, denen es schon vor der Krise an Nötigem gefehlt hat.
Eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder rief verzweifelt an, weil sie kein Geld hat, um ihren Öltank zu füllen. Jakubietz berichtete ihr von der Möglichkeit, beim Jobcenter eine einmalige Beihilfe aus dem Hartz-IV-Topf zu beantragen. Und er riet ihr, erneut nachzufragen: Sie könnte nach der anstehenden Reform im kommenden Jahr eine Kandidatin fürs Wohngeld werden.
Eine andere Anruferin verpasst mit 1.100 Euro Nettoeinkommen bisher um einen Euro den Wohngeldanspruch. Auch ihr konnte Jakubietz Hoffnung machen: Mit der Reform werden die Einkommensgrenzen und auch die Mietpreisobergrenzen hochgesetzt werden. Zudem soll künftig die Warmmiete Kriterium für die Bemessung der Leistung sein. Bisher werden höhere Heizkosten im Wohngeld – anders als beim Hartz-IV-Bezug – nicht berücksichtigt.
Für eine andere Anruferin hat sich der Anruf beim Hilfetelefon schon jetzt gelohnt: Sie erfuhr, dass sie längst Anspruch auf Grundsicherung hat.
DAS HILFETELFON
Das städtische »Hilfetelefon für Energiekosten« ist montags bis donnerstags von 9 bis 17 Uhr besetzt, freitags von 9 bis 13 Uhr. (GEA) 07121 303 4646 energiekostenhotline @reutlingen.de www.reutlingen.de/ energiekostenhotline
Rund zehn Anrufer im Schnitt: Der Ansturm auf die Hotline ist bisher überschaubar. Im Sozialamt geht man davon aus, dass das Interesse größer wird, wenn das Angebot bekannter wird und die bösen Überraschungen in Form der Abrechnungen kommen. »Bei vielen ist das noch nicht angekommen«, vermutet Haas.
Auch die Wohngeldreform dürfte die Anruferfrequenz erhöhen. Daher hat Michael Embery eine »flexible Struktur mit ausbaufähigem Volumen« geplant. Zu den vorhandenen Telefonisten können sieben weitere Sozialamtsmitarbeiter für den Telefondienst eingesetzt werden, die bereits geschult sind. Als Arbeitsort steht die Briefpost bereit.
Derweil müssen auch die Experten nicht nur beim Wohngeld mit einer Reihe von politischen Unwägbarkeiten jonglieren: Auch beim Thema Hartz IV/Bürgergeld stehen Neuerungen an. Ampelkoalition und CDU konnten sich jedoch bisher nicht einigen.
Absehbar fürs Amt laut Joachim Haas: Mit der geplanten Reform des Wohngelds könnte sich die Anzahl der Berechtigten in Reutlingen verdreifachen, von bisher rund 800 auf dann 2 400. Das bedeutet zunächst mal: Arbeit im Rathaus. Zu den drei vorhandenen sollen sechs neue Sachbearbeiter für die Bearbeitung der Anträge ein- oder abgestellt werden. (GEA)