REUTLINGEN/TÜBINGEN. Kurz war es so, als ob die Welt im Hagelschlag untergeht. In wenigen Minuten verwandelten sich am Mittwochabend gegen 18 Uhr die Tübinger Gassen in Bäche, die Steinlachunterführung in einen Fluss. Ein heftiges Gewitter mit Hagel tobte durch die Innenstadt, ließ Keller volllaufen, zerfetzte den Blumenschmuck auf der Neckarinsel und verwandelte die Stadt kurzfristig in eine Winterlandschaft.
In der Hirschgasse blieb ein Auto im Hagel stecken und konnte nur mit vereinten Kräften wieder befreit werden. Passanten flüchteten unter Vordächer, Wasserbäche stürzten von den Hausdächern in die Straßen. Eine Stunde dauerte es, dann war der Spuk vorbei. Anschließend griffen Ladenbesitzer zu Schneeschaufeln, um die Eingänge der Läden wieder freizubekommen. Auch die Infoveranstaltung zur Regionalstadtbahn musste abgesagt werden. Zu wenige Interessenten hatten es bei diesen Niederschlagsmengen geschafft, in die Hermann-Hepper-Halle in der Westbahnhofstraße zu kommen.
Der Deutsche Wetterdienst hatte zuvor für die Landkreise Reutlingen und Tübingen die höchste Unwetterwarnstufe herausgegeben. Ein Sprecher sagte dem GEA: »Es ist mit heftigen Gewittern und Sturmböen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 Stundenkilometrn zu rechnen.« Es seien Regenmengen von 40 bis 80 Litern zu erwarten. Der Wetterdienst sprach von der heftigsten Gewitterzelle in ganz Baden-Württemberg.
Beruhigung der Gewitterlage erst am Wochenende
Das Unwetter war für eine Stunde angekündigt und flaute auch eher langsam ab. Das Gewittergeschehen bewegte sich nur ganz langsam. Eine Beruhigung der gewittrigen Wetterlage sei erst in Richtung Wochenende zu erwarten.
Wetterdienst rät: Abstand von Gebäuden, Bäumen, Gerüsten und Hochspannungsleitungen halten
Bei Unwettern dieser Art rät der Wetterdienst: Fenster und Türen schließen, Gegenstände im Freien sichern sowie Abstand von Gebäuden, Bäumen, Gerüsten und Hochspannungsleitungen halten. Vereinzelt könnten auch Bäume entwurzelt und Dächer beschädigt werden. Überflutungen von Kellern und Straßen sowie örtliche Überschwemmungen an Bächen und kleinen Flüssen seien ebenfalls möglich. Einen Überblick über die Pegelstände der Flüsse in der Region Neckar-Alb gibt es auf der Website der Landesanstalt für Umwelt.
Verkehrschaos in Tübingen
Im Landkreis Tübingen hat das Unwetter teilweise für Verkehrschaos gesorgt. Vor dem Schlossbergtunnel in Tübingen hat sich aufgrund des Starkregens viel Wasser angestaut. Einige Autos sind in Hagelhaufen festgefahren und mussten von anderen Fahrerrn hinausgeschoben werden. Manche Autos seien laut Augenzeugen nur noch halb zu sehen gewesen, so hoch stand das Wasser.
Hagelflieger über Reutlingen
Auch in Reutlingen haben Hagel und Starkregen Spuren hinterlassen. Am Audizentrum in der Rommelsbacherstraße steht die Kreuzung unter Wasser, für den Bus ist kein Durchkommen. In Richtung Stuttgart staut sich der Verkehr, Autos sind teilweise in den Wassermassen stecken geblieben. Wie groß das Ausmaß des Unwetters ist, ist noch nicht klar, Polizei und Feuerwehr waren auf GEA-Anfrage bislang nicht zu erreichen. Wie das Flightradar24-Echo zeigt, war auch ein Hagelflieger im Einsatz.
Tübinger Infoveranstaltung abgesagt
Die Infoveranstaltung, in der die Ergebnisse einer Untersuchung zu Alternativen zur Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn in Tübingen vorgestellt werden sollte, wurde soeben abgesagt. Neuer Termin ist der 7. Juli.
Impfzentrum in Tübingen steht unter Wasser
Das Tübinger Impfzentrum ist vom Unwetter schwer getroffen worden, in der Halle steht das Wasser, meldet das Landratsamt. Deshalb müssen zunächst alle Impftermine, die noch heute (24. Juni) stattfinden sollten, abgesagt werden. Im Lauf des Tages werde man die Lage prüfen und auf www.tuebingen-impfzentrum.de informieren, wie es weiter geht und was mit den ausgefallenen Terminen passiert.
DWD senkt Warnstufe von vier auf zwei
Gegen 19 Uhr hob der Deutsche Wetterdienst die Unwetterwarnung vor »Schwerem Gewitter mit Orkanböen, extrem heftigen Starkregen und Hagel« für die Landkreise Reutlingen und Tübingen auf. Das Unwetter der Stufe vier (lila markiert) ist mittlerweile nach Norden weitergezogen.
Echaz tritt in Betzingen über die Ufer
In Betzingens Ortsmitte direkt am Rathaus ist es ebenfalls zu Überschwemmungen gekommen. Auf der Wannweiler Straße staute sich das Wasser Augenzeugen zufolge zeitweise bis auf die Höhe von rund einem halben Meter. Kennzeichen trieben im Wasser. Offensichtlich waren die Gullys verstopft, sodass die Wassermassen nicht schnell genug abfließen konnten. Die Feuerwehr versuchte die Gullys freizulegen, um das Abfließen des Wassers zu beschleunigen. Ein Anwohner zeigte sich verärgert über Autofahrer, die teils mit nicht reduzierter Geschwindigkeit durch die Wassermassen fuhren und diese so noch mehr in Richtung eines Wohnhauses mit bereits vollgelaufenem Keller drückten. Auch in der Betzinger Steinachstraße kam es zeitweise zu Überschwemmungen und Verkehrsbehinderungen. Die Wannweiler Straße ist mittlerweile wieder befahrbar, die Wassermassen sind abgeflossen.
Polizei Reutlingen: »Chaotische Phase«
Bei der Reutlinger Polizei gingen am Mittwochabend eine Vielzahl von Notrufen ein. Das bestätigte PvD Michael Christner auf GEA-Anfrage. Demnach seien zahlreiche Keller vollgelaufen, Straßen wurden überflutet, Gullideckel hochgedrückt. Außerdem soll es zu einigen Unfällen gekommen sein und an manchen Gebäuden wurde der Einbruchsalarm ausgelöst.
Hagelschäden in Mittelstadt ähnlich wie 2013
Auch in Mittelstadt war Land unter: »Die Hagelschäden im Ort sind mit 2013 vergleichbar«, berichtete Bezirksbürgermeister Wilhelm Haug gestern Abend kurz von seinem Einsatzort: Auf der Riedericher Straße war er kurz nach dem Unwetter zusammen mit Freiwilligen zugange, um den Weg für Einsatzfahrzeuge freizuräumen. Teils 1,20 Meter hoch mit Hagel bedeckt war die Straße, so der Schultes.
Feuerwehr im Dauereinsatz
Die Einsätze der Feuerwehr in Reutlingen dauerten stundenlang an, meldete die Reutlinger Stadtverwaltung am Mittwochabend. Es seien 63 Fahrzeuge und 370 Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW unterwegs. Gegen 18 Uhr ging eine Warnmeldung des DWD auf der Integrierten Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst in Reutlingen ein. Der diensthabende Leitungsdienst hat daraufhin um 18:08 Uhr die Führungsunterstützungseinheit in die Integrierte Leitstelle nachalarmieren lassen und Voralarm für alle Abteilungen der Freiwilligen Feuerwehr ausgelöst.
Bis 21.30 Uhr sind 162 Einsätze, davon 129 im Stadtgebiet Reutlingen eingelaufen. Schwerpunkte sind die Stadtbezirke Betzingen, Mittelstadt, Rommelsbach, Oferdingen, Degerschlacht und Sickenhausen sowie der westliche Bereich der Innenstadt. In Mittelstadt stürzte ein Baum in eine Stromleitung in deren Folge der Ort stromlos gelegt wurde.
Die Feuerwehr hat das Führungs- und Lagezentrum mit einem Führungsstab besetzt. Eine Abschnittsleitung ist im Feuerwehrhaus Betzingen eingerichtet. Neben 30 Löschfahrzeugen aus dem Stadtgebiet Reutlingen wurden weitere Kräfte aus Pfullingen, Eningen, Pliezhausen, Lichtenstein und dem THW ins Stadtgebiet nachgefordert. Ein Verbindungsbeamter der Polizei verstärkt den Führungsstab der Feuerwehr. Die Verbindungsstraßen zwischen Rommelsbach und Mittelstadt sowie die B28 Höhe Betzingen sind teilweise überflutet, teilweise mit Hagel übersät gewesen.
Eine Unwetterbilanz vom Tag nach dem Hagel finden Sie hier.