Logo
Aktuell Sammlung

Eine gigantische Menge an Stoffmustern an der Hochschule Reutlingen

Eine gigantische Menge an Stoffmustern ist Zeugnis des Beginns der Textilindustrie im Königreich Württemberg. Aufbewahrt wird der Schatz an der Hochschule Reutlingen.

Annika Heuser (l) und Katharina Ebrecht (r) von der Fakultät Textil der Hochschule Reutlingen stehen in der umfangreichen historischen Sammlung für Stoffmuster vor einem Regal mit Stoffmusterbüchern. Gegründet wurde die Sammlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung und Anschauung am damaligen Technikum für Textilindustrie Reutlingen. Foto: dpa
Annika Heuser (l) und Katharina Ebrecht (r) von der Fakultät Textil der Hochschule Reutlingen stehen in der umfangreichen historischen Sammlung für Stoffmuster vor einem Regal mit Stoffmusterbüchern. Gegründet wurde die Sammlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung und Anschauung am damaligen Technikum für Textilindustrie Reutlingen.
Foto: dpa

REUTLINGEN. 100 Quadratmeter voller Schätze: An der Hochschule Reutlingen werden in einem Kellerraum rund 500 000 teils seltene Stoffmuster aufbewahrt. Meist handelt es sich um europäische Jacquardgewebe und englische Anzugstoffe. »Es gibt aber auch Stoffe aus Japan und eine kleine Sammlung mit uralten Textilien aus Peru«, erzählt die Leiterin der Hochschulbibliothek, Katharina Ebrecht. Gemeinsam mit der Professorin Annika Heuser, betreut sie die wertvolle Sammlung.

Die historische Gewebesammlung umfasst 75 peruanische Gewebefragmente des 9. bis 15. Jahrhunderts. Außerdem 850 japanische Stoffmuster aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und 1200 Musterbücher mit europäischen Stoffen des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind aber auch Dokumente aus der wechselvollen Geschichte der Hochschule Reutlingen. Sie sind Zeugnis des Beginns der Textilindustrie im Königreich Württemberg zu Beginn der industriellen Revolution und den damit einhergehenden umwälzenden Fortschritten in der Spinnnerei- und  Webereitechnik. 

Das Königreich Württemberg war bis 1850 ein armes Agrarland.  »Die damalige Handweberei wurde ausschließlich mit einigen Tausend Handwebstühlen in Heimarbeit betrieben. Da die hergestellten Produkte zwar qualitativ zufriedenstellend waren, aber vom Design und den Kosten mit der ausländischen Massenproduktion nicht mithalten konnten, fasste man den Entschluss, in Reutlingen eine Webschule zu gründen«, erzählt Eugen Wendler, der lange Jahre an der Reutlinger Hochschule lehrte. An der Webschule, die mit zehn Schülern den Unterricht aufnahm, sollten die modernen Techniken der Textilindustrie erlernt und dieses Know-How in den Staaten des Deutschen Bundes sowie im Ausland weitergegeben werden. 

Webschule war beliebt

Zwei Wanderlehrer für Weberei wurden berufen, »die der rückständigen württembergischen Textilindustrie neue, den technologischen Anforderungen der ersten industriellen Revolution entsprechende Impulse geben sollten«, steht in einem Beitrag von Wendler zum 150-jährigen Bestehen der Hochschule im Jahr 2005. Die Webschule wurde bald beliebt, 25 Jahre nach der Gründung gab es schon fast 800 Zöglinge. Die Reutlinger Schule habe sich zur bedeutendsten textiltechnischen Lehranstalt Südwestdeutschlands gemausert. Nur noch in Sachsen mit Leipzig und Dresden und im Ruhrgebiet um Krefeld habe es noch solche Zentren gegeben, erzählt Wendler.

Die Strahlkraft der Webschule mit ihrem Angebot an Theorie und Praxis ließ auch viele ausländische Studenten nach Reutlingen kommen. »Von Reutlingen aus haben sich die Schüler in verschiedenen Gegenden angesiedelt und Textilunternehmen aufgebaut. Und die Schweizer Textilindustrie ist in Reutlingen zur Schule gegangen«, erzählt Wendler.

Die Textilsammlung entstand laut Ebrecht am damaligen Technikum für Textilindustrie Reutlingen - einem Nachfolgeinstitut der ersten Webschule - und setzt sich zusammen aus Erwerbungen des Textiltechnikums, aus Beständen des früheren Landesgewerbemuseums sowie aus Schenkungen. Dazu wurden systematisch Stoffmuster aus den Naturmaterialien Wolle, Leinen, Baumwolle und Seide gesammelt und archiviert. Eine Reihe von Stoffen wurde mit den Maschinen des Technikums im Rahmen der Ausbildung produziert. An die japanischen Stoffe kam man über den aus Bietigheim stammenden Arzt Erwin Bälz, der an der medizinischen Uni in Tokio lehrte und dort unter anderem Textilgewebe sammelte.

Textilingenieur statt Weber

Heute sitzen Studierende in Reutlingen nicht mehr an einem Webstuhl. Der Beruf nennt sich auch nicht mehr Weber, sondern Textilingenieur. Nicht immer sei es einfach, junge Menschen für die Bedeutung des Textils und seiner Vielfältigkeit zu begeistern, erzählt Heuser. Textil bedeute ja nicht immer nur Bekleidung. »Wir gehen direkt in die Schulen. Wir bringen Anschauungsmaterial mit, weil es auch ein sehr greifbarer Beruf ist. Wenn wir dann einen Airbag oder ein Sicherheitsgurt auf den Tisch legen und sagen, das ist auch Textil, dann ist das ein Aha-Erlebnis.« Die Studierenden aus Reutlingen seien sehr gefragt. »Die Unternehmen reißen sie uns sozusagen aus den Händen.« Die angehenden Textilingenieure bekämen die wertvolle Stoffsammlung zu Anschauungszwecken zu sehen.

5000 Studenten sind an der Hochschule Reutlingen insgesamt eingeschrieben, rund 500 sind es an der (Textil-)Fakultät, die sich Texoversum nennt. Seit Anfang 2023 steht das Gebäude auf dem Gelände des Reutlinger Hochschule - es ist umhüllt von einer transparenten Textilfassade aus Glas- und Carbonfasern. Laut dem Bauherren Südwesttextil kommen hier Studierende, Auszubildende sowie Unternehmen und Forschung auf 3000 Quadratmetern zusammen, um die Textil- und Bekleidungsindustrie zu gestalten. (dpa)