REUTLINGEN/TÜBINGEN. Bus und Bahn gehört die Zukunft. Sie sollen eine entscheidende Rolle in der Verkehrswende spielen. »Pünktlich, zuverlässig, sicher, sauber, flexibel und möglichst ohne Störungen« soll der öffentliche Personennahverkehr funktionieren. Das ist auf der gemeinsamen Homepage des Verkehrsministeriums und der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg »bwegt« zu lesen. Die Wirklichkeit sieht allerdings oft ganz anders aus.
So zum Beispiel am 22. Januar. Nur wenige Fahrzeuge standen zur Verfügung. Journalist Norbert Leister schildert das in seinem Blog: »Auf der Hinfahrt kam ein viel zu kurzer Zug, der nur mit Mühe alle Passagiere aufnehmen konnte. Ich hatte noch nicht einmal einen Griff zum Festhalten, mein Gleichgewichtssinn wurde enorm trainiert.« Die Rückfahrt war nicht minder anstrengend. Ein viel zu kurzer Zug mit nur zwei Wagen stand für Fahrgäste aus zwei zuvor ausgefallenen Zügen bereit. Die Durchsage des Bahn-Mitarbeiters: »Machen Sie es sich doch noch ein wenig kuscheliger.«
»Noch nie habe ich so viele Verspätungen, ausgefallene Züge sowie verpasste Anschlusszüge erlebt.«
Manche Menschen, die regelmäßig mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs sind, sind am Rande der Verzweiflung. Benjamin Clasing zum Beispiel. In einem Brief an Bahn und Presse schildert er seinen Alltag. Clasing pendelt seit 15 Jahren auf der Strecke Stuttgart – Tübingen. Oft muss er in Tübingen weiter Richtung Hechingen umsteigen. »Noch nie habe ich so viele Verspätungen, ausgefallene Züge sowie verpasste Anschlusszüge erlebt.« Er könne sich in den vergangenen Monaten an »keinen einzigen Tag erinnern, in der die Verbindung in Summe einwandfrei funktionierte. Kurz gesagt, ich bin verzweifelt und sehe aktuell kein Fünkchen Verbesserung, es wird von Woche zu Woche schlimmer. Das Karussell der Gründe dreht sich fleißig: Wetter, Technik, Personal, Unfälle, Baustellen … «.
Verzweiflung auch auf der Strecke zwischen Herrenberg und Tübingen. Wie im GEA berichtet, fallen aufgrund von Fahrzeugmangel immer wieder Züge aus. Und keine Besserung ist in Sicht. Für Schüler und Pendler, die in ihrem Alltag auf die Verbindungen angewiesen sind, bedeutet das, zu improvisieren, auf andere Verkehrsmittel auszuweichen, sofern welche zur Verfügung stehen. Eltern organisieren Fahrgemeinschaften, um ihre Kinder rechtzeitig zur Schule zu bringen.
GEA-Leserforum
Ihre Bahn-Erlebnisse sind gefragt
Wie sind Ihre Erfahrungen als Pendler oder Reisende mit der Bahn? Kommen Sie pünktlich und bequem ans Ziel oder kämpfen Sie im Alltag mit Verspätungen, überfüllten Zügen, kaputten Zugtüren und Toiletten? Schildern Sie uns so konkret wie möglich, wie die Bahnfahrt auf der Strecke zwischen Herrenberg, Tübingen und Stuttgart Ihren Alltag beeinflusst. Schreiben Sie uns – bitte mit vollem Namen und Wohnort – eine E-Mail mit Ihrem Text an gea-forum@gea.de. Formulieren Sie kurz und knackig: Maximal 40 Zeilen zu je 35 Anschlägen sind erbeten. Die Beiträge werden, eventuell in gekürzter Form, mit ihrem Namen und Ihrem Wohnort im GEA zu lesen sein. (GEA)
Dass das keine Einzelerfahrungen sind, bestätigt das Qualitätsranking des Verkehrsministeriums. Von den 32 Schienennetzen im Land hat es die Neckartalbahn im vergangenen Jahr auf den letzten Platz geschafft und sich auch noch in der Gesamtpunktzahl verschlechtert. Untersucht wird dabei nicht nur Pünktlichkeit, sondern auch Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Zugkapazität. Alles zusammen ergibt dann eine Gesamtbewertung. Das Netz der Neckartalbahn umfasst dabei 383 viel befahrene Kilometer von Tübingen über Stuttgart, Heilbronn, Karlsruhe und Mannheim.
Die Erms- und Ammertalbahn kam immerhin auf Platz 12 im Ranking. Allerdings bezog sich die jüngste Untersuchung auf den Schienenverkehr im ersten Halbjahr 2023. Da im Spätherbst 2023 viele Züge in Reparatur mussten, und es außerdem zu wenig Fahrdienstleiter gibt, dürfte diese Platzierung nicht zu halten sein. Fast neidvoll blickt man da auf die Albbahn. Die Züge zwischen Engstingen, Gammertingen, Schelklingen und Ulm verkehren auf ihren 86 Kilometern mit einer Zuverlässigkeit, die an die erstplatzierte Bahn zwischen Schaffhausen und Erzingen herankommt.
»Seit Jahren leidet die Zuverlässigkeit der Bahn. Es gibt zu viele Verspätungen und kurzfristige Fahrplanänderungen«
Auch beim Fernverkehr ist noch viel Luft nach oben: Nur noch 64 Prozent der Züge im DB-Fernverkehr galten bis Ende 2023 als pünktlich. Das hat Matthias Gastel erfragt. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete ist regelmäßig mit der Bahn zwischen Süddeutschland und Berlin unterwegs und führt über seine Erfahrungen mit der Bahn seit November 2013 Tagebuch. Gastel blickt nicht nur darauf, ob der Zug pünktlich am Ziel ankommt, sondern beschreibt auch den Service: Funktioniert das WLAN im Zug? Ist das Bordbistro geöffnet, wie sieht es mit den Reservierungen aus? Gastel ist nach wie vor überzeugter Bahnreisender. Aber auch er zieht ein ernüchterndes Fazit: »Seit Jahren leidet die Zuverlässigkeit der Bahn. Es gibt zu viele Verspätungen und kurzfristige Fahrplanänderungen.« (GEA)