REUTLINGEN-BETZINGEN. Betzingen hat viele Besonderheiten zu bieten. Jetzt kommt eine dazu, die man mitten im schwäbischen Vorort nicht unbedingt vermuten würde: In der Zweigstelle der Stadtbibliothek Reutlingen gibt es seit Neuestem eine chinesische Leseecke. Das ist nicht nur für Betzingen ein Novum, sondern auch für die Stadtbibliothek. Am Montag war feierliche Übergabe der Kinderbücher. 99 an der Zahl, was wie das Datum voller Symbolik steckt.
Philosophie, Kultur, Medizin, Geschichte, Küche – Bücher über China finden sich reichlich in der Stadtbibliothek-Hauptstelle in Reutlingen, nicht aber in chinesischer Sprache, sagt Tanja Schleyerbach, Beauftragte für interkulturelle Bibliotheksarbeit und Vielfalt in der Stadtbücherei. Den Anstoß für den ungewöhnlichen Zuwachs ausgerechnet in der Betzinger Zweigstelle gab der Verein »Chinesische Kultur-und Bildungsplattform Reutlingen« und deren Vorstandsvorsitzende Yan Jiang. 2002 kam sie nach Deutschland, studierte in Dresden und arbeitet seit 2008 bei der Firma Bosch in der Tübinger Straße – also ganz nah dran an Betzingen und seiner kleinen Bücherei Im Wasen. Weil nicht nur bei Bosch viele Chinesen beschäftigt sind, sondern auch in den Firmen im Industriegebiet Mark-West vor den Toren Betzingens, bot es sich an, hier die chinesische Leseecke einzurichten, berichtet Tanja Schleyerbach bei der Eröffnungsfeier.
Sprachschule für Kinder
Bisher tauschten die Vereinsmitglieder die Bücher untereinander aus. China, sagt Yan Jiang, zähle zu den ältesten Kulturnationen der Welt. In der 2015 gegründeten chinesischen Plattform mit aktuell 97 Mitgliedern geht es um die Vermittlung von Kultur, Kunst und Bildung. »Uns ausgewanderten Chinesen ist es wichtig, uns auszutauschen und die Sprachfähigkeit unserer Kinder auch in Deutschland zu fördern.« Deshalb richtete der Verein eine Sprachschule für Kinder ein, immer sonntags wird dort zwei Stunden lang Chinesisch unterrichtet. Zum Lernen gehört Lesen. Der Austausch der Bücher gestalte sich in einem Verein so ganz ohne Öffnungszeiten oder Verwaltungsstrukturen schwierig, so Jiang. Deshalb die Idee, dem Bestand an chinesischen Kinderbüchern in Betzingen eine neue Heimat zu geben.
Märchen, Parabeln, Bilderbücher, lustige, fantastische, historische Geschichten – ein buntes Angebot an Büchern kam zusammen, das nicht nur für die Kinder aus chinesischen Familien spannend sein dürfte, sondern auch für die Jungs und Mädchen, die an der Jos-Weiß-Schule Chinesisch lernen. Die Vorbereitung gestaltete sich für das Bibliotheks-Team mangels chinesischer Sprachkenntnisse etwas knifflig, doch bei der Einspeisung der Katalogangaben halfen Mitglieder des chinesischen Vereins tatkräftig mit.
Am Montag dann »endlich«, so Zweigstellenleiterin Anne Linder, die feierliche Übergabe der Bücher an einem Ort, »wo es was zu sehen und zu bestaunen gibt«. Künftig noch mehr, nämlich die chinesische Leseecke. Pandemiebedingt wird sie nur mit einem kleinen Fest eingeweiht – ganz ohne kulinarische Köstlichkeiten, Liedern nicht gesungen, sondern vom Band, aber Tanzvorführungen von Kindern der chinesischen Schule des Vereins.
Mitten im Neujahrsfest
Und es werden Geheimnisse gelüftet. Warum zum Beispiel nicht runde 100, sondern 99 Bücher in der Leseecke stehen: Die Zahl 9 steht in der chinesischen Kultur für die Ewigkeit, und zum Neujahrsabend servierte man dem Kaiser als besondere Geste 99 Gerichte. »Dieses Symbol der Ewigkeit soll für eine langfristige Kooperation zwischen dem Verein und der Stadtbibliothek Reutlingen stehen«, so Schleyerbach. Kein Zufall auch das Datum des Eröffnungsfestes, das mitten in die chinesischen Neujahrsfeierlichkeiten gelegt wird. Das Fest richtet sich nach dem Mondkalender. 2022, dem »Jahr des Tigers« begann es am 1. Februar. »Es ist eine der ältesten Traditionen von China«, berichtet Yan Jiang. Zwei Wochen lang wird das Neujahrsfest, das gleichzeitig Frühlingsfest ist, gefeiert. Jing gibt Einblick in die Gepflogenheiten, erklärt die chinesischen Symbole für Glück und was das abschließende Laternenfest für die Chinesen bedeutet.
Rund 366 Menschen mit chinesischem Pass wohnen in Reutlingen. 40 haben einen Bibliotheksausweis, einige kennt sie persönlich und ist beeindruckt von ihrer Aufgeschlossenheit. Allein in dem Bosch-Firmennetzwerk tauschen sich 120 chinesische Mitarbeiter aus – das neue Angebot soll sich also schnell rumsprechen und Abnehmer finden. Den Initiatoren geht es nicht nur um diese Zielgruppe, sondern um mehr. »Ich wünsche mir, dass solche Projekte dazu beitragen, dass wir uns gegenseitig wahrnehmen und immer besser verstehen lernen – als Menschen, ihre Kultur und Geschichte«, erklärt Tanja Schleyerbach. (GEA)