REUTLINGEN. Es wird ernst für den Evangelischen Kirchenbezirk Reutlingen. Nachdem die Zahl der Gemeindeglieder seit den 1970er-Jahren kontinuierlich sinkt, sind für 2030 nur noch rund 44 500 Kirchenmitglieder prognostiziert. 1998 waren es noch 80 700, Ende 2022 rund 56 790. Dies, so Dekan Marcus Keinath, ziehe Konsequenzen nach sich, denn auch die Kirchensteuereinnahmen gingen zurück. Im Pfarrplan der Landeskirche, der Personalstrukturplanung des Pfarrdienstes, muss der Kirchenbezirk bis 2030 rund ein Drittel der Pfarrstellen reduzieren, also zehn volle Gemeindepfarrstellen. Welche das sein werden, wird nach gemeinsamen Beratungen die Bezirkssynode entscheiden.
Im Jahr 2006 wurde zum ersten Mal ein Pfarrplan aufgestellt, der alle sechs Jahre aktualisiert wird. »Davor war es nicht nötig, denn es gab genügend Pfarrerinnen und Pfarrer und steigende Budgets.« Seitdem aber gehe die Zahl der Gemeindeglieder immer mehr zurück. »In Reutlingen nähern wir uns der 30 Prozent Marke an Evangelischen. Damit können wir die bestehenden Strukturen nicht mehr aufrechterhalten.« Eine Pfarrerin oder ein Pfarrer koste die Landeskirche als Dienstgeber vom Beginn des Vikariats bis zum Lebensende inklusive Ruhegehaltsvorsorge um die acht Millionen Euro. »Das sind keine Peanuts«, meint Keinath.
Dass Gläubige der Kirche den Rücken kehrten, habe verschiedene Gründe. Zum einen gebe es kirchlich generierte Ursachen: »Die Kirche muss sich auch Fehler und Schwächen eingestehen.« Zum anderen sei der sonntägliche Gottesdienstbesuch nicht mehr selbstverständlich. »Es gibt eine unglaubliche Vielfalt an Lebensprofilen. Jeder sucht sich das heraus, worin er für sich den größten Benefit sieht.« Es gehöre nicht mehr wie früher zur gesellschaftlichen Norm, sich kirchlich trauen oder sein Kind taufen zu lassen. Die finanzielle Situation habe sich bei vielen verschlechtert, sodass man sich die Kirchensteuer sparen wolle. »Auch ist die Mehrheit diesseitsorientiert und erwarte nichts mehr vom Jenseits. Man beschäftigt sich nicht damit.«
Natürlich sehe die Kirche auch den Auftrag, ihr Angebot zu verändern, um den Bedarfen der Gläubigen zu entsprechen. »Denn wir sind für die Menschen da«, betont der Dekan. Dass durch die Kürzung der Pfarrstellen noch mehr Gläubige austreten könnten, sei jedoch ein berechtigter Gedanke. Eine weitere Herausforderung sei der Altersaufbau im Pfarrdienst. »In der Landeskirche gehen viele Kollegen gleichzeitig in den Ruhestand. Auch dies muss bei der Verteilung von Gemeindegliedern auf die verbleibenden Pfarrstellen berücksichtigt werden.« Denn Ziel sei es, jeder Stelle eine in etwa gleichbleibende Zahl an Gemeindegliedern zuzurechnen.
Alle herausgefordert
Der Kirchenbezirk Reutlingen erstreckt sich von Altenburg über die Kernstadt, das Echaztal und die Alb bis Gammertingen und hat 27 Gemeinden. Laut Landessynode muss die Anzahl der Pfarrstellen um 32,3 Prozent gekürzt werden. »Das betrifft alle Gemeinden und fordert alle heraus«, so Keinath.
Unter dem Stichwort »regio-lokale Zusammenarbeit« müssten die Zusammenarbeit gefördert, Teams gebildet und Kräfte gebündelt werden. Beispielsweise könne nicht mehr in jeder Gemeinde selbstverständlich der Sonntagsgottesdienst stattfinden. Dass Pfarrer oder Pfarrerin einfach mehr arbeiteten, sei unzumutbar, denn sie seien bereits an der Belastungsgrenze und bräuchten genügend Zeit für seelsorgerliche Gespräche.
Der Pfarrplansonderausschuss des Kirchenbezirks hat im Distrikt Alb die Reduzierung von Personalstellen von 550 Prozent auf 400 Prozent beschlossen, im Distrikt Echaz von 725 auf 500 Prozent, in der Gesamtkirchengemeinde Reutlingen von 1 000 auf 650 Prozent und in Reutlingen-Nord von 825 auf 550 Prozent. In den nächsten Monaten soll die Umsetzung erarbeitet werden, die Beschlussfassung erfolgt dann am 15. März 2024.
Die personellen Veränderungen zögen auch Konsequenzen bei den Gebäuden nach sich. Die Landeskirche besitze über 6 000 Immobilien und habe sich bis 2040 zur Klimaneutralität verpflichtet. »Wir brauchen intensive Beratungen, wie mit nicht isolierbaren Kirchen sowie alten Pfarr- und Gemeindehäusern und den nach den Kürzungen nicht mehr benötigen Gebäuden umgegangen werden soll.« Diese Situation habe sich seit Jahren angekündigt, weshalb er, so der Dekan, nicht mit starken Protesten rechne. (gb)