MÜNSINGEN. Sonst ist Gudrun Remane ganz dicht dran an den Menschen. Die Schauspielerin vom Stuttgarter Ensemble »Dein Theater« – bekannt nicht zuletzt für seine Kulturprogramme auf Bestellung – spielt in der Wohngruppe, am Pflegebett, immer aber in unmittelbarem Kontakt zu ihrem betagten, oft demenziell erkrankten Publikum. Bekannte Lieder, vertraute Gedichte: Sie wecken Erinnerungen, verknüpfen die Vergangenheit mit der Gegenwart. »So werden auf poetische Weise Sinne und Geist verjüngt«, sagt Gudrun Remane.
In der Coronakrise ist alles anders. Pflegeheime sind für Besucher tabu, auch für Schauspielerinnen. Für Gudrun Remane und ihre Kollegen von »Dein Theater« ist damit wie für viele Kunstschaffende ein ganzes Arbeitsfeld weggebrochen. Deshalb hat sich die Theaterfrau, die gerne mit der Drehorgel auftritt, ruckzuck umorientiert. »Die Drehorgel ist doch ein Außeninstrument.« Und so spielt sie – wie gestern Nachmittag vor dem Münsinger Samariterstift – jetzt eben von draußen. Die Stiftung »Zeit für Menschen« hat den Bewohnern des Altenpflegeheims den Kultur-Nachmittag ermöglicht.
Das Licht und die Lieder
»Alles kommt wieder, das Licht und die Lieder«: Den Frühling als Zeit der Erneuerung, des Verjüngens, des Neubeginns präsentierte Gudrun Remane mit einer zauberhaften Mischung aus Gesang, Poesie und Schauspiel, immer an ihr Publikum auf den Balkonen des Samariterstifts gewandt, aber auch die Zuhörer auf dem Rathausplatz mit einbeziehend: »Ich bringe den Frühling ans Fenster!« Und nicht nur bei bekannten Liedern wie »Im Märzen der Bauer« stimmten einige der betagten Zuhörer mit ein – auch Gudrun Remanes Aufzählung typisch schwäbischer Frühlingsaktivitäten wurde spontan vom Balkon herab ergänzt: »Fenster putzen.«
Zu Worten und Melodien gesellten sich Bilder und Geräusche: das Klappern des Storchs, Vogelgezwitscher, das Schnattern von Enten und das Piepsen ihrer Küken, von der Schauspielerin mit ganz wenigen Hilfsmitteln ins Spiel gebracht. Eine zusätzliche Attraktion für die Heimbewohner war das SWR-Filmteam, das die Theateraufführung auf dem Rathausplatz für einen Landesschau-Beitrag aufzeichnete.
Die ersten für Senioren konzipierten Programme von »Dein Theater« wurden in Sälen gespielt. »Da standen wir zu elft auf der Bühne«, berichtet die Schauspielerin von den Anfängen vor dreißig Jahren. Zunehmend waren dann aber kleinere Angebote gefragt, die sich für Wohngruppen eigneten: So können auch diejenigen Senioren dabei sein, für die der Weg in den Veranstaltungssaal womöglich zu beschwerlich wäre. Weiterer konsequenter Schritt waren schließlich Programme für Zuhörer, die ihr Bett gar nicht mehr verlassen können.
Anfangs war Gudrun Remane bei diesen ganz intimen Theater-Projekten etwas unsicher: Wo verläuft die Grenze zwischen Kunst und Therapie? Die Erfahrung hat ihr dann aber gezeigt, dass Melodien, Texte, Fingerspiele sehr wirksame Instrumente sein können, um Kontakt zu Demenzkranken aufzubauen. Und dass gerade die musikalische Erinnerung der Bereich ist, der sich dem Vergessen am längsten entzieht. »Das bietet uns einen sehr schönen Schlüssel für eine lebenswerte Gegenwart.«
Auf diese Weise entstehen sehr individuelle, auf das jeweilige Gegenüber zugeschnittene Programme. »Welche Sinne sind noch ansprechbar?« Und wie kann durch Klänge, Berührungen, Reime oder Requisiten der Austausch zwischen Schauspielerin und Zuhörerin oder Zuhörer in Gang gesetzt werden? »Daraus entstehen oft unheimlich schöne Begegnungen«, berichtet Gudrun Remane.
Theater am Pflegebett
So ist aus den Theater-Erfahrungen am Pflegebett ein regelrechtes Konzept entstanden, das die Schauspielerin in Seminaren und Fortbildungen an Pflegende oder Betreuungskräfte weitergibt. Denn was für die Bühne taugt, kann auch bei der Begleitung hochbetagter oder demenzkranker Menschen hilfreich sein: die direkte Ansprache, die mitreißende Melodie, der betont rhythmisch gesprochene Reim, die Requisite, die die Aufmerksamkeit fesselt. (GEA)
LEBENSGEISTER WECKEN: KULTURPROGRAMME FÜR SENIOREN
»Dein Theater« bietet auch Fortbildungen für die Arbeit mit Pflegebedürftigen an
Neujahr, Fasching, Ostern, Muttertag, Erntedank, Sankt Martin, Nikolaus, Advent, Weihnachten, Silvester – immer wieder bieten Feiertage gerade alten Menschen Orientierung. Im Jahreszeitentheater von »Dein Theater« wirkt der Jahreslauf durch bekannte Lieder, Gedichte und Geschichten.
Eine stets deutliche Darstellungsweise erleichtert es auch demenziell erkranktem Publikum, sich auf das Bühnengeschehen einzulassen. Andere Zuschauende können sich an der Vielschichtigkeit der Programme erfreuen. Die Schauspielerinnen verkörpern Menschen, Tiere, Situationen. Sie reden und träumen von Flora, Fauna, Tag und Nacht, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Gesundheit, Einsamkeit und Glück, von Erinnern und Vergessen, von Wiederkehr, Abschied und Willkommen, von Gott und der Welt. Angesprochen wird der ganze Mensch: Farbige Requisiten und Kostüme beleben das Auge, Lieder beleben das Gemüt, die Sprache belebt den Geist.
Unter dem Titel »Lebensgeister wecken – Kulturelle Anregungen für die Arbeit mit Pflegebedürftigen« bieten Gudrun Remane und Ellen Schubert von »Dein Theater« auch Seminare und Fortbildungen für Pflegekräfte, Alltagsbegleiter im Heim, Ehrenamtliche oder pflegende Angehörige an. Eines der Seminare beschäftigt sich mit den Jahreszeiten und den Festen im Jahreslauf, an denen so viele Erinnerungen hängen: »Vier Jahreszeiten – zwölf Monate – unzählige Ideen«. Um das Thema »Ein Mensch – zwölf Sinne – unzählige Anregungen« geht es in einem Kurs, der mithilfe der von den Anthroposophen beschriebenen zwölf Sinne dabei helfen will, pflegebedürftige Menschen anzuregen, ihnen Möglichkeiten zu bieten, sich selbst und ihren Körper wahrzunehmen. »Ein Mensch – viele Stimmungen – unzählige musikalisch- literarische Resonanzen« ist eine Art poetischer Hausapotheke: Lieder, Gedichte und Redewendungen für alle Gefühle und Lebenslagen, die dabei helfen können, auf Stimmungen und Befindlichkeiten gut zu reagieren. (em)
0711 2633939-0 gudrun.remane@deintheater.de