LICHTENSTEIN/TÜBINGEN. Das Thema Albaufstieg beschäftigt die Lichtensteiner seit Jahrzehnten. Varianten wurden erdacht, geplant, geprüft, verworfen. Viele Anlieger der Bundesstraße 312 in Unterhausen und Honau leiden unter dem zunehmenden Verkehrsaufkommen. Vor fünf Jahren ist das Regierungspräsidium Tübingen (RP) im Auftrag des Bundes erneut in die Vorplanungen der »Verlegung der B 312 bei Lichtenstein«, wie der Albaufstieg im Amtsdeutsch heißt, eingestiegen. Jetzt liegen die Ergebnisse einer Verkehrsuntersuchung für die verschiedenen Planungs-Varianten vor und das RP leitet daraus weitere Verfahrens-Schritte ab. Wichtigste Erkenntnis dieser Prüfung: Nur die Variante 5b erfüllt alle Anforderungen und wäre zweispurig leistungsfähig genug. Daraus ergibt sich, dass die Planungen für die Regionalstadtbahn Neckar-Alb unabhängig von den Planungen für den Albaufstieg fortgesetzt werden können. Lichtensteins Bürgermeister Peter Nußbaum und der Zweckverband Regionalstadtbahn Neckar-Alb (RSBNA) sind von dieser Entwicklung allerdings nicht begeistert.
Die jetzt vorliegenden Untersuchungsergebnisse prognostizieren die Verkehrsentwicklung bis ins Jahr 2035 und errechnen, wie sich die Verkehrsmengen bei Umsetzung der jeweiligen Varianten mit verschiedenen Straßenquerschnitten im Straßennetz verändert, heißt es in der Pressemitteilung aus dem RP. In diesen Berechnungen sind Faktoren wie die allgemeine Verkehrsentwicklung mit Änderungen in der Aufteilung der Verkehrsnachfrage auf verschiedene Verkehrsmittel, die Strukturentwicklung der Raumschaft sowie andere Projekte aus dem Bedarfsplan für Bundesfernstraßen berücksichtigt.
Die im Jahr 2021 durchgeführte Verkehrserhebung zeigt, dass auf der Strecke zwischen Pfullingen und Lichtenstein-Unterhausen derzeit rund 25.000 Fahrzeuge pro Werktag unterwegs sind, davon rund 6,6 Prozent Schwerverkehr. Für das Jahr 2035 wird ein Anstieg um rund 1.500 Fahrzeuge pro Tag auf der B 312 im Echaztal erwartet.
Die Variante 1b, die im Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen hinterlegt ist, weist die höchste Verkehrswirksamkeit auf, teilt das RP mit. Auch die westlich von Lichtenstein verlaufenden Varianten 5a und 5b sowie die östlich von Holzelfingen verlaufende Variante 7c sind verkehrswirksam. Im Gegensatz dazu sind die Variante 3, deren Trasse Großteils auf der Stuhlsteige verläuft, und die sogenannte »Albvereinsvariante«, die ebenfalls weit westlich von Lichtenstein und zunächst in Richtung Sonnenbühl-Genkingen verläuft, nicht verkehrswirksam, da sie im Untersuchungsraum eine geringe Verkehrsverlagerung bewirken.
Leistungsfähigkeit der Trassen
Neben der Verkehrswirksamkeit wurde im Verkehrsgutachten die Leistungsfähigkeit der Varianten bewertet. Dabei fließen jeweils der Straßenquerschnitt, die Kurvigkeit sowie die Steigungsverhältnisse ein. Dabei sind die Kurvigkeit und die Steigung besonders für den Schwerlastverkehr von Bedeutung. Die Ergebnisse zeigen, dass die Variante 1b nur mit zwei Fahrstreifen je Richtung leistungsfähig wäre, um auf ihr die prognostizierten Verkehre in ausreichendem Maße realisieren zu können. Allerdings wäre die Variante derzeit zumindest aus baulicher und wirtschaftlicher Sicht mit einem vierstreifigen Straßenquerschnitt nicht umsetzbar. Hinzu kommt die erhebliche Steigung der Trasse im Bereich des Albaufstiegs von 7,8 Prozent auf 2,3 Kilometern, was den Schwerlastverkehr stark ausbremsen würde. Die maximal zulässige Steigung für überregionale Straßen wie der B 312 liegt bei 5,5 Prozent, heißt es weiter in der Mitteilung.
Auch Variante 7c wäre mit nur einem Fahrstreifen je Richtung nicht leistungsfähig und müsste im Bereich des Aufstiegs von Pfullingen bis Holzelfingen vierstreifig gebaut werden. Dies würde zu starken Kostensteigerungen führen.
Die Varianten 5b und 5a erfüllen als einzige vollständig die Vorgaben des Bedarfsplans für die Bundesfernstraßen. Zudem wären sie verkehrswirksam und genügend leistungsfähig. Allerdings schnitt Variante 5a in früheren Untersuchungen bereits aus umweltfachlicher Sicht schlechter ab als Variante 5b.
Neben den genannten Trassenverläufen berücksichtigt die gesamte Verkehrsuntersuchung zudem noch denkbare Unterszenarien und Trassenüberlegungen. Die Ergänzungen liegen abschließend bis Ende dieses Jahres vor. Im Ergebnis kann bereits jetzt festgestellt werden, dass diese Verläufe entweder nicht verkehrswirksam in Bezug auf eine Entlastung Lichtensteins oder nicht leistungsfähig sind.
Für die geplante Regional-Stadtbahn bedeuten die aktuellen Untersuchungsergebnisse zur B 312, dass der Zweckverband die Planung des Bahnprojekts zumindest bis zu einer endgültigen Entscheidung zum Straßenbauprojekt nahezu unabhängig von diesem verfolgen kann. Im Fall der Variante 1b wären beide Maßnahmen nur gemeinschaftlich planerisch und baulich umsetzbar.
Derzeit werden die umweltfachlichen Aspekte der Trassen zur B 312 untersucht. Die Ergebnisse der Planungsraumanalyse zu Flora und Fauna sollen bis Ende dieses Jahres vorliegen. Weitere umweltfachliche Gutachten sollen im Jahr 2025 folgen.
Zudem sieht der Planungsverlauf des Regierungspräsidiums vor, mit den Verkehrsministerien von Land und Bund die Ergebnisse und Erkenntnisse der Verkehrsuntersuchung, der Kostenentwicklung und der weiteren Planungsbeiträge noch in diesem Jahr zu erörtern, damit die jeweils erforderlichen Entscheidungen getroffen werden können.
Das Regierungspräsidium wird über die Ergebnisse der weiteren Untersuchungen und Abstimmungen informieren.
Bisherige Planung konterkariert
Als »große Überraschung« bezeichnet Lichtensteins Bürgermeister Peter Nußbaum die vom RP präsentierten Ergebnisse. »Dass die seit längerem im Fokus stehende und vom Regierungspräsidium Tübingen bislang fachlich vertretene Anmeldevariante 1b zum jetzigen Zeitpunkt kassiert wird, überrascht auf der ganzen Linie und konterkariert zudem den bisherigen Planungsfortgang«, erklärt er in einer Mitteilung. »Wir haben immer gesagt: Wir brauchen die Parallelität beider Projekte: Albaufstieg und Regionalstadtbahn«, fügt er gegenüber dem GEA hinzu. Das habe auch Verkehrsminister Winfried Herrmann bei einer Trassenbegehung der Regionalstadtbahn im Echaztal vor einem Jahr bestätigt.
Die erstmals formulierte Notwendigkeit eines durchgängig vierstreifigen Straßenausbaus bedeute ein klares K.o.-Kriterium und das ebenso überraschende wie abrupte Aus für die bislang durchgängig zweistreifig geplante Anmeldevariante 1b und stelle unter dieser Voraussetzung auch die Prüfung eines möglichen planerischen Optimierungspotenzials dieser Variante ins Abseits.
Für die nun im Blick stehende, bislang nicht näher betrachteten Alternativvariante 5b bedeuteten die nach heutigen Maßstäben zu erfüllenden Anforderungen an einen leistungsfähigen Straßen- und Tunnelausbau sowie geltende Umweltverträglichkeitsvorgaben eine planerische Hypothek und lassen obendrein deutliche Kostensteigerungen erwarten, führt Nußbaum weiter aus.
Weit entfernt vom Zielzustand
Die Tatsache, dass der Lichtensteiner Abschnitt der B312 in einem funktionsräumlichen Zusammenhang mit dem vorgelagerten zweistreifigen Ausbau der Ortsumfahrung Pfullingen stehe und dass die langfristige verkehrliche Leistungsfähigkeit des Scheibengipfeltunnels als jüngstes regionales Straßenbauprojekt mit einer zweistreifigen Ausführung sichergestellt wurde, mache die mitgeteilte neue Anforderung eines durchgängig vierstreifigen Ausbaus der B312 bei Lichtenstein zum jetzigen Zeitpunkt kaum nachvollziehbar und werfe zwangsläufig Fragen auf.
Auf der anderen Seite zeigten die Ergebnisse des Verkehrsgutachtens, dass trotz einer verkehrlichen Entlastungswirkung der künftigen Echaztallinie der RSBNA eine Zunahme des Verkehrsaufkommens auf der B 312 bei Lichtenstein um 1.500 Fahrzeuge pro Tag prognostiziert wird. Diese Verkehrsprognose unterstreiche deutlich den unverändert hohen und vordringlichen Handlungsbedarf beim Straßenverkehrsprojekt der Verlegung des Albaufstiegs der B 312.
»Um es klar zu benennen: Die Gemeinde Lichtenstein steht nicht nur aus voller Überzeugung und mit ganzer Entschlossenheit hinter dem überfälligen und zwingend erforderlichen leistungsfähigen Ausbau der B312 bei Lichtenstein, sondern bekennt sich auch uneingeschränkt zur Echaztallinie der Regionalstadtbahn, weil beide Projekte für die Verkehrsinfrastruktur notwendig sind und aufgrund ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen keines das andere zu ersetzen vermag«, hebt Nußbaum hervor.
Bei allen überraschenden Unklarheiten der nun vom Regierungspräsidium Tübingen vorgestellten Ergebnisse offenbart sich nach Ansicht des Bürgermeisters eine Gewissheit: »Der seit vielen Jahren völlig unzureichende, hinter der eigentlichen Verkehrsbedeutung weit zurückbleibende Ist-Ausbauzustand der Bundesstraße 312 bei Lichtenstein, dessen negative Auswirkungen zu vielfältigen und hohen Belastungen bei der gesamten Lichtensteiner Einwohnerschaft wie auch bei den täglich 25.000 Verkehrsteilnehmern – darunter zahlreiche Berufspendler – führen, ist offenbar noch weiter vom anzustrebenden leistungsfähigen Zielzustand entfernt als bislang angenommen.« Erschwerend komme eine wachsende Verkehrsbelastung der Landesstraße 387 hinzu, die auch die Holzelfinger Einwohnerschaft einer hohen Belastungssituation aussetze.
»Als Bürgermeister der Gemeinde Lichtenstein richte ich an das Regierungspräsidium Tübingen den dringenden Appell, dem Planungsauftrag und der Planungsverantwortung gerecht zu werden und dieses aus gutem Grund im vordringlichen Bedarf mit hoher Priorität ausgewiesene Straßenverkehrsprojekt lösungs- und zielorientiert voranzubringen. Weiterhin rufe ich alle unterstützenden Akteure aus der Region dazu auf, eine zielführende planerische Lösung für die Verlegung des Albaufstiegs der B312 bei Lichtenstein gemeinsam einzufordern und hierfür die richtigen Weichen zu stellen. Denn die Argumente liegen auf der Hand und treten im Übrigen im Verkehrsgeschehen in und um Lichtenstein täglich aufs Neue zutage«, betont Nußbaum.
Gemeinsame Presseerklärung
»Der Wechsel der Vorzugstrasse kommt in Verbindung mit der in der Verkehrsuntersuchung festgestellten, nicht gegebenen Leistungsfähigkeit der Variante 1b zum aktuellen Zeitpunkt mehr als überraschend«, heißt es in einer Pressemitteilung des Zweckverbands Regionalstadtbahn Neckar-Alb, die auch die Bundestagsabgeordneten Michael Donth und Beate Müller-Gemmeke, die Landtagsabgeordneten Manuel Hailfinger, Cindy Holmberg und Thomas Poreski, Landrat Dr. Ulrich Fiedler, die Bürgermeister Stefan Wörner (Pfullingen), Peter Nußbaum (Lichtenstein) und Mario Storz (Engstingen) sowie Eugen Höschele, Verbandsvorsitzender des Regionalverbands Neckar-Alb sowie des Zweckverbands Regional-Stadtbahn Neckar-Alb und Professor Dr. Tobias Bernecker, Geschäftsführer der Regional-Stadtbahn Neckar-Alb Projektgesellschaft mbH, mit unterzeichent haben. Alle bisherigen Bemühungen um eine rasche und parallele Realisierung von Albaufstieg und Regional-Stadtbahn im Echaztal müssten nun fachlich von Neuem beginnen.
»Wir fordern den Bund als Vorhabenträger für Verlegung der B 312 bei Lichtenstein (Albaufstieg) und das Regierungspräsidium Tübingen als planende Behörde daher nachdrücklich dazu auf, unverzüglich ein konkretes Konzept und einen Kostenrahmen für die weitere Fortführung der Planungen unter den geänderten Rahmenbedingungen vorzulegen, und darin auch einen Realisierungshorizont für den Neubau der B 312 zu nennen«, heißt es weiter in der Mitteilung. »Dies sind wir den Menschen, die im Echaztal leben genauso schuldig wie den mehr als 25.000 Kraftfahrzeuglenkern und -lenkerinnen, die nach den neuen Zahlen des Regierungspräsidiums täglich im Echaztal oberhalb von Pfullingen auf der B 312 unterwegs sind.«
Gleichzeitig müsse die Regional-Stadtbahn ihre Planungen im Echaztal rasch an die neuen Gegebenheiten anpassen. Auch dabei dürfe es nicht zu Verzögerungen kommen. Die Unterzeichner fordern das Regierungspräsidium auf, wie angekündigt, noch vor Abschluss der Vorplanung für die Regional-Stadtbahn im Jahr 2025 die finale Variante für den Neubau des Albaufstiegs zu bestätigen, damit die Regional-Stadtbahn vom Zweckverband ohne Verzögerungen weiter geplant und so realisiert werden kann, dass beide Verkehrswege miteinander harmonieren.
Verzögerungen nicht hinnehmbar
»Wir setzen uns unverändert mit Nachdruck dafür ein, dass sowohl für den Pendlerverkehr mit der Regional-Stadtbahn ein gänzlich neues Mobilitätsangebot entsteht als auch für alle, die auch in Zukunft auf die Straße angewiesen sind, insbesondere für den Schwerlastverkehr, die erforderlichen Verbesserungen im Echaztal umgesetzt werden«, heißt es von Seiten des Zweckverbands. Bund und Land sind aufgefordert, bei beiden Projekten ihrer Verantwortung bei Planung, Bau und Finanzierung nachzukommen. »Jede weitere Verzögerung auf dem Weg zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse ist vor dem Hintergrund der in Verkehrsuntersuchung prognostizierten weiteren Verkehrszunahme im Echaztal nicht mehr hinnehmbar.« (eg/GEA)
Albaufstieg
Die B 312 stellt eine wichtige überregionale Nord-Süd-Verbindung zwischen dem Verdichtungsraum Mittlerer Neckar mit dem Oberzentrum Reutlingen/Tübingen und Mittelzentrum Biberach dar. Durch die Verlegung des Albaufstiegs soll eine leistungsfähige und verkehrssichere, überregionale Verbindung geschaffen sowie die Ortsdurchfahrten entlastet werden, heißt es aus dem Regierungspräsidium. Die Lärm- und Abgassituation in den betroffenen Ortslagen soll verbessert und die Unfallrisiken sowie die Umweltbelastungen sollen gemindert werden. Die Maßnahme ist im aktuellen Bedarfsplan 2016 im Vordringlichen Bedarf ausgewiesen. Sie befindet sich in der Planungsstufe Vorplanung.